Die Künstler forderten einen zentralen Bestandteil der bürgerlichen Theorie heraus: die Trennung zwischen privatem Raum und Öffentlichkeit, wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Mary Gluck in einem Gastbeitrag schreibt.
Die "Blaue Katze"
Über die Autorin:

Privat
Mary Gluck ist Professor of History and Comparative Literature an der Brown University, Providence und derzeit Senior_Fellow am IFK Wien.
Vortrag zum Thema in Wien:
Am 12.12. hält Mary Gluck einen Vortrag mit dem Titel "The Scandal of the Budapest Orpheum".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17,
1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.
Links:
Die Budapester Orpheum Gesellschaft befand sich bis 1919 in Wien, Taborstraße. Die Spezialität dieses Hauses waren Kartenspiele.
- Budapester Orpheum, Wikipedia
- Szöke Szakál, Wikipedia

Országos Széchényi Könyvtár
Programmseite des Vergnügungsetablissements "Somossy Mulató" aus den 1890ern. In: Országos Széchényi Könyvtár (OSZK), Budapest.
Von Mary Gluck
Budapest besaß um 1900 nicht weniger als vierzig Orpheen - Wien stand dem nicht nach. Unter dieser mehr als lebendigen Unterhaltungseinrichtung, auch Revuetheater genannt, verstand man ein populäres Theater, in dem während der Vorstellungen auch gespeist und getrunken werden konnte. Das Äquivalent im Frankreich dieser Zeit war das "Café Chantand", in England die "Music Hall".
Im jiddischen-deutschen Budapest sagte der gewachsene Budapester "Zengerei" dazu. Geboten wurden Schlager, Tanzaufführungen, Komik und akrobatische Darstellungen. Viele der singenden Komödianten und Schauspieler wurden zu Heroes der Budapester-Wiener Unterhaltungsszene, wie Sándor Rot - kein geringerer Kritiker als Karl Kraus war ein expliziter Fan von ihm - oder fanden auf weiteren, unbequemen Wegen zum Film, wie der Blaue-Katze-Schauspieler Szöke Szakál , der sich in Hollywood S. Z. Skakall nannte und als Ober "Carl" in "Casablanca" Filmgeschichte machte.
Benannt waren die Orpheen zumeist nach ihren Besitzern. Wie auch die "Blaue Katze" nach dem ihren, Herrn Katz. Ein ungarisches Gesetz von 1895 verlangte, die Darbietungen jeweils zur Hälfte in ungarischer und zur anderen in deutscher Sprache abzuhalten - man umging diese unpopuläre Hürde, indem in den Nachmittagsstunden auf Ungarisch gespielt wurde, und wenn die Dunkelheit und das Publikum hereinbrach, auf Deutsch. Die Stars und Darbietungen der "Blauen Katze" wurden zu Exportschlagern vom Format eines Tokai, von Paprika oder ungarischen Pferden.
Auch Erzherzog Rudolf war ein Stammgast
Das Orpheum war eine der wichtigsten und lebendigsten Einrichtungen der Unterhaltungsszene Budapests zwischen den Jahren 1880 und 1914. Dieser Hotspot des Entertainments mit seinen populären Revuen und Spektakel war engst mit der jüdischen unteren Mittelklasse verbunden.
Zeitgenössische Beobachter wiesen jedoch ausnahmslos auf eine viel breitere Anziehungskraft des Orpheums hin, wobei mittelständische Freiberufler und Mitglieder des Adels Seite an Seite mit Marktfrauen, Kaufleuten und Beamten um Zutritt ringen mussten.
Das wohl berühmteste Beispiel für die soziale Promiskuität des Budapester Art eines Orpheums war die "Blaue Katze“, die keinen Geringeren als den Erzherzog Rudolf in seinen Bann zog. Dieser kam regelmäßig nach Budapest, um vom berühmten Nachtleben in Budapest profitieren zu können.
Tabuzonen der "besseren" Gesellschaft freigelegt
Wie können wir uns solche Breitenwirksamkeit eines Etablissements dieser Art auf so unterschiedliche Gesellschaftsschichten erklären? Man muss nach der Bedeutung der kommerziellen Massenkultur im 19. Jahrhundert fragen, aber auch nach der kulturellen Leistung des Orpheums in einer sich modernisierenden Stadt.
Welche sozialen und symbolischen Räume wurden so für moderne Identitäten geschaffen? Gefragt werden muss auch nach der Beziehung von Juden zur nationalen Kultur, die das Orpheum neu formte.
Gemäß meinen Forschungsergebnissen hat das Orpheum einen grenzüberschreitenden Raum geschaffen, in dem die Tabuzonen der "besseren" Gesellschaft öffentlich freigelegt wurden und die Codes des guten Geschmacks und des angebrachten Benehmens absichtlich parodiert wurden. Dargestellt wurden unmoralische, sexuelle Spielformen und, was ebenso als skandalös erachtet wurde, Parodien auf stadtbekannte "Neureiche" wie auch Politiker. Prostitution wurde offensichtlich ausgetragen, Call Girls für die bessere Mittelschicht fanden ihre Klientel.
Eine neue Form von Intimität
Die wirkliche Skandalwirkung ist jedoch nicht am Gegenstand Orpheum festzumachen, sondern auch an seiner beispiellosen Mischung von Intimem und des Öffentlichem in einem neuen Aufführungsstil, der die Anerkennung der Differenz zwischen den beiden ablehnte.
Das Orpheum hat dadurch die zentrale Orthodoxie der bürgerlichen Gesellschaft herausgefordert, die versucht hat, die Welt aufzuteilen: einerseits in einen kontrollierbaren Raum, der als privat, intim und expressiv erschien, und andererseits in einen unkontrollierbaren, der als öffentlich, instrumental und kommerziell galt.
Anstelle der Taxonomie privat/öffentlich der bürgerlichen Ideologie, wurde durch das Orpheum ein neuer Begriff von Intimität konstituiert, der zugleich öffentlich, performativ und nicht häuslich/befremdlich war. So wurde die Schaffung einer "neuen Erzählung vom Selbst und vom Anderen" ermöglicht, die nicht mehr über die Narrative vom bürgerlichen Familienleben definiert war.
Diese Erkenntnis legt den Schluss nahe, dass das Budapester Orpheum eine besonders mitteleuropäische Version einer Bohemian World war, die jüdischen Künstlern dazu verhalf, sich zu urbanen Konsumenten zu transformieren, während es die ungarischen Mittel- und Oberklassen mit einer Alternative gegen den Konformismus ihres kulturellen Lebens versorgt hat.
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