Standort: science.ORF.at / Meldung: "Besser Science als Chemie in der Schule"

Eine Forscherin und ein Forscher im Labor

Besser Science als Chemie in der Schule

Didaktisch ist die Chemie im Vergleich zu den anderen naturwissenschaftlichen Fächern besonders gefordert. Das liegt unter anderem daran, dass bei Biologie und Physik sich die Dinge eher angreifen lassen. Nicht zuletzt deshalb plädiert die Chemiedidaktikerin Anja Lembens an den Schulen für ein gemeinsames Unterrichtsfach "Science".

Didaktik 25.12.2011

Dabei könnte chemischen Fragen nachgegangen werden, die im Alltag wichtig sind, meint sie in einem science.ORF.at-Interview: etwa warum Glucose in Kindergetränken schlecht für die Zähne von Kindern ist und weshalb Natriumchlorid bei einem Chemieunfall nicht unbedingt ein Grund zur Panik sein muss.

science.ORF.at: Was ist das Besondere an der Didaktik der Chemie?

Porträt Anja Lembens

Barbara Mair-Ret

Anja Lembens ist seit Juli 2010 Professorin für Didaktik der Chemie an der Universität Wien und leitet das Österreichische Kompetenzzentrum für Didaktik der Chemie.

Weitere Informationen:

Anja Lembens : Wir bewegen uns in der Chemie auf verschiedenen Ebenen: Zunächst gibt es die phänomenologische Ebene, alles Sichtbare und unmittelbar Wahrnehmbare. Die Erklärungen dafür suchen wir auf der submikroskopischen, nicht direkt wahrnehmbaren Ebene. Und letztlich kommunizieren wir auf einer symbolischen Ebene: Symbole des Periodensystems, Reaktionsgleichungen und Modelle. Wir springen andauernd zwischen diesen drei Ebenen hin und her. Das ist eine große Herausforderung für Lehrende und Lernende. Und das gibt es bei der Biologie und der Physik so nicht.

Geht es bei diesen nicht auch um abstrakte Modelle und Erklärungen?

Ja, aber sie haben weniger das Problem, dass vieles nicht direkt wahrnehmbar ist. An Biologie kann viel emotionaler herangegangen werden. Es ist vieles spürbar und angreifbar. Selbst physikalische Kräfte - Schwimmen, Sinken, Luftdruck - kann man leichter erfahrbar machen, als das in der Chemie geht.

Wie hat sich die Didaktik der Chemie in den letzten zehn, zwanzig Jahren verändert?

Das kann man nicht so pauschal beantworten. In Österreich ist sie noch ein junges Feld, das gerade erst aufgebaut wird. International tut sich da viel. Es geht darum, die Erkenntnisse fachdidaktischer Forschung in die Lehre einzubinden, aber der Weg bis in die Schulen ist lang. Wir nehmen z.B. stärker als früher war, dass Menschen unterschiedlich sind und wir im Unterricht Lerngelegenheiten mit entsprechend vielfältigen Zugängen anbieten müssen. Menschen lernen ganz unterschiedlich und kommen mit ganz verschiedenen Erfahrungen und Voraussetzungen in den Chemieunterricht. Diese Diversität rückt heute stärker ins Bewusstsein, aber es gibt keine einfachen Rezepte dafür.

Was heißt das für die Praxis?

Zum Beispiel, dass Schüler, aber auch angehende Lehrer und Lehrerinnen, erfahren sollen, wie Chemie betrieben wird: zum Beispiel in einem Unternehmen oder an der Universität. Und Lehrveranstaltungen für Lehramtsstudierende sollten so aufgebaut sein, wie sie das später im Unterricht umsetzen sollten. Ein vielversprechendes Konzept ist das forschende Lernen: Schüler und Schülerinnen sollen selbst Forschungsfragen formulieren und ihnen nachgehen können. Das ist nicht leicht, sie erfahren jedoch auf diesem Weg, wie Wissenschaft funktioniert. Sie sollen verstehen, wie naturwissenschaftliches Wissen entsteht und zu seiner Bedeutung kommt.

Wie kann man Chemie am besten vermitteln?

Jahr der Chemie:

Die Unesco hat 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie ausgerufen. Auf science.ORF.at werden laufend Artikel zum Thema erscheinen. Auch Radio Österreich 1 widmet dem Jahr der Chemie einen Schwerpunkt.

Weitere Informationen zum Jahr der Chemie findet man auf der internationalen Seite der Unesco und dem österreichischen Pendant.

Es gibt nicht den Weg, sie am besten zu vermitteln. Aber wir wissen, dass bei dem klassischen Weg zu wenig hängen bleibt. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben Angst, mit dem Lehrplan nicht durchzukommen. Aber es kann schließlich nicht darum gehen, möglichst viele Inhalte abzuhandeln, sondern Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, den chemischen Inhalten einen subjektiven Sinn zuschreiben zu können.

Es ist wichtig, dass junge Menschen erfahren können, dass Chemie nicht eine Ansammlung von Fakten, Theorien und Gesetzen ist, sondern ein menschliches Handlungsfeld, in dem auch sie eine Rolle einnehmen können. Wenn Schüler und Schülerinnen das stärker erfahren, wäre für sie auch nachvollziehbar, warum Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unter Bezug auf dieselbe Datenbasis zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen können - wie z.B. bei der Klimadebatte. Es würde klarer, dass es neben der naturwissenschaftlichen Datenbasis auch ethisch-moralische Aspekte gibt, die es bei Entscheidungen unter Unsicherheit zu berücksichtigen gilt.

Dann könnten Schüler und Schülerinnen später auch die Grenzen zu Pseudowissenschaften und Esoterik erkennen und würden fragen, wo Informationen herkommen und wer deren Zustandekommen finanziert hat.

Sollte man Chemie dann mehr anhand praktischer Beispiel vermitteln, statt zum Beispiel das Periodensystem auswendig lernen zu lassen?

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Interview berichtet auch "Wissen aktuell", Di., 27.12.2011, 13:55 Uhr.

Das Periodensystem stur auswendig zu lernen, ist Schwachsinn. Wichtig ist zu wissen, wie man es benutzt. Wichtig ist, dass Menschen wissen, worum es geht, wenn in der Zeitung steht, dass es einen "Chemieunfall" gegeben hat, bei dem Natriumchlorid freigesetzt worden ist. Das ist Kochsalz. Menschen sollten die Chemie als eine Wissenschaft begreifen, die Methoden und Wissen zur Verfügung stellt, um die Welt zu erklären und Teil unserer modernen Kultur ist.

Sollten naturwissenschaftliche Fächer getrennt oder gemeinsam unterrichtet werden?

Ich bin eine große Anhängerin des Unterrichtsfaches "Science", das es in fast allen Ländern gibt. Die Trennung in Chemie, Physik und Biologie ist typisch für den deutschsprachigen Raum. In den unteren Schulstufen sollte man eher Themenfelder bearbeiten, als in Fächern zu unterrichten. Es gibt schließlich keine naturwissenschaftlichen Probleme, die von einer Disziplin alleine gelöst werden könnten.

In den höheren Klassen sollte es zusätzlich auch gefächerten Unterricht geben, um ein vertieftes Wissen und Verstehen in den einzelnen Domänen zu ermöglichen. Der Widerstand gegen ein gemeinsames Fach hängt auch stark mit der Angst vor weiteren Stundenstreichungen im Fach Chemie zusammen. Ein Fach "Science" müsste selbstverständlich mit einer angemessenen Wochenstundenzahl und entsprechend ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern ausgestattet werden.

Wie kann man das Interesse an Chemie fördern?

Man darf Chemie nicht als eine Ansammlung von Wissen wahrnehmen, sondern als die Möglichkeit, Handlungsspielräume zu eröffnen. Man muss zeigen, dass die Disziplin sich immer weiterentwickelt und dass es gute Berufschancen gibt. Wichtig ist es auch, Zugänge für bisher noch unterrepräsentierte Gruppen zu ermöglichen, z.B. Mädchen und Migranten.

Was ist ihr Gegenargument zum Satz: "Das brauch ich ja später alles nicht mehr"?

Das fängt damit an, dass Leute wissen, was in Lebensmitteln drinnen ist. Eine Kollegin hat mir kürzlich von einer Studentin berichtet, deren Kind an einer Flasche mit süßem Zeug nuckelte und dessen Zähne schon ganz faul waren. Es darf nicht passieren, dass jemand, der einen Schulabschluss hat, nicht weiß, dass Glucose Zucker ist und warum er schlecht für die Zähne ist. Die Menschen sollten auch erkennen, welche Kloreiniger sie nicht zusammenleeren dürfen, damit kein Chlor entsteht.

Ein Chemiedidaktik-Kollege in BremenEilks) entwickelt und erprobt Unterrichtseinheiten, in denen Schülerinnen und Schüler wichtige Bewertungskompetenzen erwerben können. Dabei geht es um die Kriterien, nach denen man sich entscheidet, ein Duschgel zu kaufen. Die meisten Menschen achten nur auf Geruch und Farbe, aber nicht auf die konkreten Inhaltsstoffe. Im Duschgel können aber bedenkliche Stoffe enthalten sein. Zum Beispiel stammt Moschusduft ursprünglich von einem Hirsch, der unter Naturschutz steht. Der Duft lässt sich synthetisch nachahmen. Manche dieser Substanzen können wie Hormone wirken und sind daher nicht unbedenklich.

Für den natürlichen Stoff gilt das nicht?

Nein. Die Substanzen sind chemisch nicht ident. Verschiedene Chemikalien können den gleichen Geruchseindruck hervorrufen, auch wenn sie von der Struktur her unterschiedlich sind. Es gibt unterschiedlich aufwändige Verfahren, Moschusgeruch nachzuahmen, und die billigeren Chemikalien können eben z.B. wie Hormone wirken. Solche praktisch wichtigen Dinge wissen Normalverbraucher oft nicht, wenn im Chemieunterricht nur die Systematik heruntergebetet wird.

Hat das Jahr der Chemie etwas für die Fachdidaktik in dem Bereich gebracht?

Für die Didaktik der Chemie hat das keine besonderen Impulse gebracht. Interessant ist aber, dass das Unesco-Jahr der Chemie 2011 eine Initiative aus Äthiopien war. Das passt zu einer großen, internationalen Studie, die 14- bis 16-Jährige befragt hat, für wie relevant sie Naturwissenschaften halten. In den Industriestaaten halten die Jugendlichen Naturwissenschaften für wichtig, haben aber kein Interesse, in ihnen zu arbeiten und aktiv dabei zu sein.

In Schwellenländern ist das anders. Dort steht man vor Herausforderungen, denen mit naturwissenschaftlichen und technologischen Ansätzen begegnet werden kann. Auch sehen junge Menschen dort viel stärker, dass sie bessere Berufschancen haben, wenn sie etwas über Naturwissenschaft und Technik wissen. Hierin liegt eine weitere Herausforderung für die Didaktik der Chemie: Berufsfelder im Bereich der Chemie attraktiv zu machen.

Warum interessieren sich in Industriestaaten nur wenige Jugendliche für Naturwissenschaft?

Das liegt vielleicht auch daran, dass die Helden von heute nicht mehr die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind. Es sind Models und Fußballer. En vogue ist, schnell reich und berühmt zu werden, ohne viel zu wissen und sich anzustrengen.

Interview: Mark Hammer, science.ORF.at

Mehr zum Thema: