Standort: science.ORF.at / Meldung: "Anhaltelager: Viele Häftlinge waren Nazis"

Häftlinge in Wöllersdorf, ca. 1934

Anhaltelager: Viele Häftlinge waren Nazis

Wöllersdorf bei Wiener Neustadt: Das im Oktober 1933 eingerichtete Lager wurde zum Synonym für das System der "Anhaltung" der Ständestaat-Diktatur (1933-1938). Erstmals wird nun die Sozialstruktur der Häftlinge empirisch genauer untersucht. Das Ergebnis: Fast 73 Prozent der Inhaftierten waren Nationalsozialisten.

Zeitgeschichte 19.01.2012

Laut dem Wiener Zeithistoriker Kurt Bauer sind die Zahlen "in ihrer Deutlichkeit überraschend". Jene Ständestaat-Opfer, die sich für ein unabhängiges und demokratisches Österreich eingesetzt hatten, wurden durch den gestrigen Beschluss des "Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz" im Nationalrat nun rehabilitiert.

Rechter Überhang

Die Möglichkeit der "Anhaltung" ohne richterlichen Befehl und auf bloßen Verdacht hin wurde in Österreich am 23. September 1933 geschaffen. Bauer, dessen von Jubiläumsfonds der Nationalbank und Zukunftsfonds der Republik gefördertes Projekt noch im Laufen ist, hat die Daten von 11.500 Personen ermittelt, die in Wöllersdorf und anderen Lagern, aber auch in Polizeigefängnissen und Arresten "angehalten" wurden. Er geht aber von insgesamt rund 12.000 bis 14.000 Anhaltehäftlingen aus. Davon entfallen 72,79 Prozent auf Nationalsozialisten und 27,21 Prozent auf Sozialdemokraten und Kommunisten.

Dieser deutliche Überhang nach rechts lässt sich, so Bauer im Gespräch mit der APA, als Reaktion auf den nationalsozialistischen "Juli-Putsch" 1934 erklären. Dieser endete mit der Erstürmung des Bundeskanzleramts und der Ermordung des christlichsozialen Kanzlers Engelbert Dollfuß. Generell wäre der politische Druck von Seiten der Nationalsozialisten als stärker einzustufen.

Ö1 Sendungshinweis:

Über den gestrigen Beschluss des Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz für Opfer des Austrofaschismus berichtete auch das Ö1 Morgenjournal am 18.1.

Aktiver kommunistischer Widerstand

Während Nationalsozialisten im Schnitt etwas länger festgehalten wurden (3,5 Monate gegenüber Kommunisten mit drei Monaten), änderte sich das Verhältnis nach dem Juliabkommen 1936: Nach der österreichischen Annäherung an Nazi-Deutschland wurden mehr Linke als Nationalsozialisten in Haft genommen. Generell könne aber von einer Bevorzugung der Nationalsozialisten eher nur durch deutschnational eingestellte Richter, nicht aber von Seiten der Sicherheitsbehörden ausgegangen werden, meint der Historiker.

Unter den inhaftierten Linken stellten die Sozialdemokraten 63 Prozent und die Kommunisten rund 37 Prozent. Hält man sich vor Augen, dass die Kommunistische Partei bei den Nationalratswahlen 1930 nur 0,6 Prozent erhalten hatte, die Sozialdemokratie hingegen 41,1 Prozent, so spiegelt die Statistik wieder, dass der "aktive, illegale linke Widerstand zum überwiegenden Teil von Kommunisten getragen" wurde, so Bauer.

Jung und männlich

Jung und männlich waren die Inhaftierten, nur ein Prozent davon waren Frauen. Vor allem nationalsozialistische (im Schnitt 29 Jahre) und kommunistische (28) Häftlinge waren durchwegs sehr jung. Die politisch etablierte Sozialdemokratie erscheint hingegen als Partei der Frontgeneration des Ersten Weltkriegs mit deutlich älteren Proponenten (36 Jahre).

84 Prozent der linken Inhaftierten kamen aus Wien und Niederösterreich, während der Anteil dieser Bundesländer an der Gesamtbevölkerung 50 Prozent betrug. Linke Hochburgen waren Wiener Arbeiterbezirke, aber auch niederösterreichische und obersteirische Industriebezirke. Nationalsozialisten kamen überdurchschnittlich oft aus der Steiermark und Kärnten (56 Prozent der NS-Häftlinge, bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 21 Prozent) sowie Salzburg.

Laut einem am Mittwoch im Nationalrat beschlossenen Gesetz werden alle Personen rehabilitiert, die während des "Austrofaschismus" verurteilt, angehalten bzw. ausgebürgert wurden, weil sie sich für ein unabhängiges und demokratisches Österreich eingesetzt haben. Nationalsozialisten fallen nicht unter diese Kategorie.

science.ORF.at/APA

Mehr zum Thema: