Alles andere als eine normale Flüssigkeit
Von Markus Seidl
Kinder lernen bereits in der Grundschule, dass Wasser bei plus vier Grad Celsius die größte Dichte aufweist - sowohl bei Raumtemperatur als auch beim Gefrierpunkt, d. h. bei null Grad Celsius, ist es weniger dicht. Als Folge davon frieren stehende Gewässer von oben her zu, während das Wasser am Grund des Bodens eine Temperatur von plus vier Grad Celsius aufweist und flüssig bleibt. Diese tief gelegene Wasserschicht bietet Wassertieren und -pflanzen im Winter Raum zum Überleben.
Über den Autor:

Seidl
Markus Seidl (geb. 1982) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Physikalische Chemie der Universität Innsbruck. Von 2010 bis 2011 war er DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zurzeit forscht er im Rahmen eines Marietta Blau-Stipendiums des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist Markus Seidl auch literarisch tätig (Veröffentlichungen in den "Lichtungen", dem "kuckuck" und bei der "edition keiper").
Eine zufriedenstellende Erklärung für diese besondere Eigenschaft von Wasser konnte bislang allerdings nicht gefunden werden. Neben diesem als Dichteanomalie bezeichneten Phänomen weist Wasser viele weitere, für Flüssigkeiten ungewöhnliche, anomale Eigenschaften auf. Erstaunlich sind aber nicht nur die Eigenschaften von Wasser selbst, sondern auch die Tatsache, dass die meisten von ihnen bis heute nicht hinreichend erklärt werden können - obwohl zu diesem Zweck in den letzten Jahrzehnten mehrere Modelle entwickelt wurden.
Der Chemiker Martin Chaplin von der London South Bank University listet auf seiner Website zu Wasser 67 ungewöhnliche Eigenschaften oder Anomalien von Wasser auf. Neben der Dichteanomalie zeichnet sich Wasser unter anderem durch die große Vielfalt an kristallinen Eismodifikationen und die Existenz amorpher Eisphasen aus.
Die vielen Gesichter von Eis
Wassermoleküle können zumindest fünfzehn verschiedene Kristallstrukturen bilden. Die aus der Natur bekannte hexagonale Struktur von Eis I entsteht unter jenen Temperatur- und Druckbedingungen, die auf der Erde vorzufinden sind. Bei bis zu 90.000-mal höherem Druck, wie ihn die dicke Eishülle von Planetenmonden auf tiefer liegendes Eis ausübt, kommt es zur Ausbildung von Kristallstrukturen mit höherer Dichte.
Der Großteil des im Kosmos vorhandenen Wassers liegt allerdings in amorpher Form vor. Während die Moleküle in einem Eiskristall regelmäßig angeordnet sind, liegen sie in amorphen Eisformen unregelmäßig, wenn auch nicht zufällig angeordnet vor.

Seidl
Flüssiges Wasser bei minus 130 Grad Celsius
Die erwähnten Studien:
- M. Seidl, M. S. Elsaesser, K. Winkel, G. Zifferer, E. Mayer, T. Loerting: Volumetric study consistent with a glass-to-liquid transition in amorphous ices under pressure. Physical Review B 83 (2011) 100201.
- M. Seidl, T. Loerting, G. Zifferer: High-density amorphous ice: molecular dynamics simulations of the glass transition at 0.3 GPa. Journal of Chemical Physics 131 (2009) 114502.
- M. Seidl: Komplexität und scheinbare Emergenz – Wissenschaftstheoretische Überlegungen in naturwissenschaftlichem Kontext. In: W. Grießer (Hg.): Reduktionismen – und Antworten der Philosophie. Studien zum System der Philosophie Bd. 9. Königshausen & Neumann, Würzburg 2012, im Druck.
Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit zwischen amorphen Eisformen und flüssigem Wasser könnte die Erforschung von amorphem Eis dazu beitragen, die anomalen Eigenschaften von flüssigem Wasser zu verstehen. Aktuelle Studien an unterschiedlich dichten amorphen Eisformen zeigen beispielsweise, dass sich ihre für Festkörper typischen Eigenschaften ändern, wenn die Temperatur erhöht wird.
Im Jahr 2011 veröffentlichte Experimente zur Änderung des Volumens legen nahe, dass hochdichtes amorphes Eis bei zweitausendfachem Atmosphärendruck und minus 130 Grad Celsius flüssig wird; Computersimulationen bestätigen diese Interpretation. In Abhängigkeit von der Dichte der Eisprobe könnte auch flüssiges Wasser bei einem bestimmten Druck mit unterschiedlichen Dichten existieren, womit ein theoretisch vorausgesagter Schlüssel zur Enträtselung der Anomalien von Wasser experimentell unterstützt würde.
Impulse für die Philosophie
Die mit der Forschung an Wasser und Eis verbundenen Fragestellungen weisen nicht nur für sämtliche Naturwissenschaften große Relevanz auf, sondern sie können auch wichtige philosophische Impulse bereitstellen. Bisher wurde von manchen Wissenschaftstheoretikern angenommen, dass die Komplexität physikalischer Systeme das Verhältnis von makroskopischen zu mikroskopischen Eigenschaften erklären kann.
ÖAW Young Science:
Der Text ist Teil des Projekts "Young Science", im Zuge dessen Gastbeiträge von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erscheinen. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen Ö1/science.ORF.at und der Akademie der Wissenschaften.
Das Wassermolekül besitzt zwar eine einfache geometrische Gestalt, aufgrund der spezifischen Wechselwirkungen zwischen den Molekülen stellt Wasser trotzdem ein komplexes System dar. Eine Analyse des Experimentierens am Beispiel Wasser konnte nun aufzeigen, dass systemische Komplexität tatsächlich zu keinem fruchtbaren Verständnis des Verhältnisses zwischen den Eigenschaften verschiedener Ebenen führt.
Mit wachsender Systemgröße zusätzlich auftretende, makroskopische Eigenschaften sind nicht das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen auf mikroskopischer Ebene; vielmehr sind sie auf einen Wechsel der Betrachtungsebene bzw. einen Sprung zwischen zur Interpretation herangezogenen Modellen zurückzuführen. Daraus folgt, dass beispielsweise das populär gewordene Emergenzkonzept die Lösung von Scheinproblemen versucht, deren Ursachen durch die wissenschaftstheoretische Reflexion der Praxis des Experimentierens sichtbar werden.