Standort: science.ORF.at / Meldung: "Die Gedankenwelt der Filesharer"

Download-Button

Die Gedankenwelt der Filesharer

Medienpiraten, die unlizenzierte Kopien von Film- und Musikdateien übers Internet tauschen, zählen zu den umstrittensten Figuren unserer Zeit. Die australische Soziologin Francesca da Rimini spricht mit Filesharern, um herauszufinden, welche sozialen Werte und Einstellungen sie haben. ORF.at unterhielt sich mit ihr über die ersten Ergebnisse ihrer Arbeit.

Netz 13.06.2012

ORF.at: Sie beschäftigen sich mit den politischen und sozialen Werten von Filesharern. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

Francesca da Rimini: In meiner Dissertation habe ich mich mit drei sehr verschiedenen Gruppen aus dem Umfeld der neuen sozialen Bewegungen und deren Einsatz freier Software befasst: einem Bürgerjournalismusprojekt in Hong Kong, einem Digitalmedienprojekt in Jamaika und einem Internetkunstprojekt in London. Mich hat interessiert, ob diese Initiativen Gemeinsamkeiten haben.

Teilweise parallel dazu, im Lauf der letzten zwei Jahre, habe ich mich auch dem Themenkomplex Medienpiraterie, Downloading und Peer-to-Peer-Netzwerke angenähert. Was treibt die User an, die P2P nutzen? Haben sie einen ideologischen Hintergrund oder nicht? Welche Potenziale stecken in dieser sozialen Praxis?

Zur Person:

Francesca da Rimini ist Medienkünstlerin und Soziologin. Nach Abschluss ihrer Promotion über den Einsatz offener Technologien in Kulturprojekten im Jahr 2011 begann sie mit der Arbeit an einem Buchprojekt über die Werte und politischen Ansichten von Filesharern, das derzeit noch nicht abgeschlossen ist. Sie ist Mitglied eines Forschungsteams der School of Software an der University of Technology in Sydney, das sich mit den Auswirkungen technischer Entwicklungen auf die Wirtschaftsordnung befasst.

Portraitfoto von Francesca da Rimini

Günter Hack, ORF.at

Francesca da Rimini

Links:

Francesca da Rimini bloggt unter ihrem Künstlernamen doll_yoko auf der von Armin Medosch gegründeten Plattform The Next Layer.

Einer ihrer aktuellen Aufsätze zum Thema Filesharing (gemeinsam mit Jonathan Marshall) ist ebenfalls auf The Next Layer abrufbar:

Sie interessieren sich dafür, wie diese informellen Netzwerke auf die Gesellschaft einwirken.

Ja. Es entstehen im und über das Netz ja ständig neue Gruppen und Bewegungen wie etwa Anonymous oder Occupy. Beide sind Beispiele für "Neue Soziale Bewegungen". In deren Zentrum steht das gemeinsame Erleben des Protests. Sie sind auch eher Zusammenschlüsse von Individuen als Gruppen, die von einer umfassenden gemeinsamen Ideologie getrieben wären.

Occupy und Anonymous werden in den Medien stark thematisiert, sie wollen mit ihren Aktionen Aufmerksamkeit erregen. Im Gegensatz dazu ist das Filesharing eine private Aktivität, es findet zu Hause statt, es ist kein Spektakel, aber es hat möglicherweise eine größere Auswirkung darauf, wie sich der informationstechnische Kapitalismus weiterentwickeln wird.

Mit welcher Methode gehen Sie vor?

Ich führe qualitative Interviews mit Filesharern. Mittlerweile habe ich zwölf Gespräche mit Australierinnen und Australiern zwischen 21 und 55 Jahren erfasst und ausgewertet. Die Interviewpartner stammen aus verschiedenen Generationen, der Frauen- und Männeranteil ist ausgeglichen. Einige der Teilnehmer sind erst seit kurzem im Netz, andere schon seit den frühen 1990er Jahren. Die Interviews dauern jeweils rund eine Stunde. Dabei interessiert mich nicht nur die Einstellung der Leute zum Filesharing, es geht auch darum, wie sie das Internet darüber hinaus nutzen. Es zeigt mir, wie die Menschen heute die Technik nutzen, was sie über Wissen, Kreativität und Eigentum denken.

Haben Sie angesichts der Rechtslage kein Problem, Gesprächspartner zu finden?

Ich anonymisiere die Teilnehmer. Ich bitte sie auch, mir weitere potenzielle Interviewpartner aus ihrer Bekanntschaft zu nennen.

Was ist Ihnen bei der Auswertung der ersten Interviews besonders aufgefallen?

Die Gesprächspartner haben zwar unterschiedliche Auffassungen über das Internet, aber wenn es um das Filesharing geht, ähneln sich ihre Ansichten. Viele der Teilnehmer unterscheiden nicht zwischen dem Netz als technischer Infrastruktur und den Inhalten, die es darin gibt.

Die Leute zahlen viel Geld für ihren Internet-Provider, in Australien ist Breitband recht teuer. Also denken sie, sie hätten ein Recht darauf, sich alles aus dem Netz zu ziehen, weil das Netz ein gemeinsames kulturelles Artefakt der Menschheit sei.

Dabei sind einige der Leute, mit denen ich gesprochen habe, selbst Kreative. Sie benutzen das Netz dazu, über kulturelle Themen auf dem Laufenden zu bleiben und wieder eigene Inhalte einspeisen zu können.

Ö1 Sendungshinweis:

Über Filesharing und andere Aspekte des digitalen Zeitalters informiert: Digital Leben, Mo. - Do., 16:55 Uhr.

Für viele Verwerter und Künstler ist der Pirat ist eine umstrittene Figur. Um die Piraten zu stoppen, haben sich auch viele eigentlich liberale Medienschaffende für repressive Maßnahmen ausgesprochen, wie sie in dem umstrittenen Urheberrechtsabkommen ACTA vorgesehen sind.

Es gibt mittlerweile aber auch eine Tradition etablierter Künstler, das Netz und speziell Filesharing-Systeme als Vertriebsplattformen zu nutzen. Ich habe erst diese Woche ein Interview mit einem Musiker geführt und mit ihm über die Netlabels der 1990er Jahre gesprochen.

Viele Leute aus der Musikindustrie sagen, die Piraterie würde ihre Gewinne schmälern. Aber das ist umstritten. Viele Filesharer sehen Downloads ähnlich wie Radio. Man entdeckt darüber neue Bands und geht auf deren Konzerte und kauft ihnen CDs ab. Man kann auch sagen, dass Filesharing und Schwarzkopien dabei helfen, einen Markt für digitale Medienprodukte zu schaffen.

Im Zusammenhang mit dem Netz ist oft von "Communities" die Rede, also von Gemeinschaften. Können anonyme Netzwerke von Filesharern noch so funktionieren wie früher die Game-Tauschzirkel der Heimcomputer-Ära auf dem Schulhof?

Ich glaube, wir haben es mit beiden Formen zu tun. Mein jüngster Interviewpartner hat gesagt, dass er Filesharing-Netze nicht als "Communities" sehe, sondern als anonyme und eher abstrakte "Societies". Er meinte, Filesharing sei mittlerweile als soziale Praxis in weiten Teilen der Gesellschaft etabliert und akzeptiert.

Solche Rückmeldungen haben dazu geführt, dass auch ich meine Vorstellungen von Communities geändert habe. Es gibt schon Gemeinschaften, die sich um bestimmte Filesharing-Plattformen gebildet haben, die ganz spezielle Szenen wiederspiegeln, etwa Horrorfilm-Freunde oder Fans einer bestimmten Musikrichtung. Einige dieser User fühlen sich als Teil einer Gemeinschaft, andere dagegen nicht. Ich glaube, dass beide Arten der Nutzung gleichzeitig stattfinden.

Pflegen diese Filesharer noch eine bewusste Verbindung zu den Ideen der ersten Hacker, beispielsweise dazu, dass Informationen frei verfügbar sein sollen? Oder wollen sie schlicht einen wirtschaftlichen Vorteil erzielen?

Einer meiner Gesprächspartner hat das Netz als modernes Äquivalent zur Bibliothek von Alexandria bezeichnet. Diese Bibliothek könne nur erhalten werden, wenn jeder dazu seinen Beitrag leiste. Keiner von ihnen hat gesagt, dass Information frei und kostenlos sein müsse. Es geht ihnen eher um ungestörten Datenfluss. Aber sie denken nicht wie Richard Stallman, die Debatten um Freie und Offene Software sind ihnen nicht so präsent.

Den Leuten geht es eher um Kultur an sich, ihr Verhalten hat gar nicht so viel mit Informationstechnologie zu tun, sondern eher mit der Erkenntnis, dass Kultur gemeinsam hergestellt wird und dass diese Kultur nur dann wachsen und sich anpassen und verändern kann, wenn sie keinen Beschränkungen unterworfen ist.

Viele meiner Interviewpartner halten das Konzept des Geistigen Eigentums für verfehlt, sie glauben, es sei illusorisch, künstliche Beschränkungen rund um Wissen und kulturelle Artefakte zu errichten, und das, obwohl sie teilweise selbst zu den Kreativen zählen. Sie lehnen Gesetze ab, die es ihnen verbieten, Collagen oder Remixes herzustellen. In der bildenden Kunst und im Film gibt es starke Traditionen des Herstellens von Bildern, also sehen sie es als lächerlich an, diese Möglichkeiten beschneiden zu wollen.

Ist die Medienindustrie mit ihren kostspieligen Initiativen, die Filesharer als böse zu brandmarken, gescheitert?

Millionen Menschen betreiben heute Filesharing. Viele von ihnen wissen, dass sie erwischt werden können, wenn sie geschütztes Material übers Netz verteilen. Sie machen trotzdem weiter. Es ist so normal geworden, dass es fast schon langweilig ist.

Meiner Ansicht nach erwächst daraus eine Form des politischen Widerstands dagegen, dass immer weitere Bereiche der Kultur einen Warencharakter verpasst bekommen. Sie haben auch genug davon, stereotyp als böse Filesharer bezeichnet zu werden. Die Kampagnen der Industrie sind auch oft sehr weit hergeholt. Niemand glaubt, dass Filesharing ernsthaft mit Pädophilie oder Terrorismus zu vergleichen ist, wie das Industrievertreter zuweilen tun.

Seitens der Rechteinhaber kommt auch oft die Forderung, die Provider sollten den Datenverkehr blockieren, der über bestimmte Protokolle wie BitTorrent läuft.

Das ist schon deshalb nicht machbar, weil P2P-Systeme schon längst zu zahlreichen legalen Zwecken genutzt werden. Außerdem ist das Feld jener Technologien, die zur Verteilung von Inhalten eingesetzt werden, immer stark in Bewegung. Es gibt ständig neue Anwendungen.

Das BitTorrent-Protokoll ist deshalb interessant, weil es die Nutzer zur Zusammenarbeit drängt. Wenn man Dateien herunterlädt, dann sollte man auch Teile der Datei wieder anderen Usern zur Verfügung stellen. Man gibt etwas zurück, während man mit dem Netz verbunden ist.

Einige meiner Interviewpartner haben dafür eigene Strategien entwickelt. Sie sagten, dass sie Inhalte, die wirklich schwer zu finden waren, absichtlich länger im System gelassen haben, damit andere interessierte Leute sie finden konnten. Sie sagten, dass sie eine Verantwortung dafür tragen würden, dieses oder jenes obskure Musikstück oder einen vergessenen russischen Dokumentarfilm im Netz und damit am Leben zu erhalten.

Wie sehen Sie den Aufstieg der Piratenparteien in diesem Kontext?

Wir haben eine Piratenpartei in Australien, aber die ist noch ziemlich klein. In Australien gibt es zwar viele Downloader, aber die Leute sehen das Thema eher locker. Über ACTA gibt es bei uns keine breite Diskussion. Mir ist bewusst, dass die Piraten stark kritisiert oder als Partei mit stark eingeschränktem Politikbereich bezeichnet werden.

Zumindest in Deutschland scheint das aber nicht so zu sein, wenn man sich im Netz umsieht. Ich habe beispielsweise gesehen, dass sie auch für Reformen im öffentlichen Nahverkehr kämpfen. Jedenfalls führen sie viele junge Leute an die Politik heran. Ich beobachte auch, dass die Leute sich organisieren, wenn der Druck auf sie steigt, auch dann, wenn es nur um Einzelfälle geht wie in Filesharing-Prozessen. Das kann auch auf Umwegen geschehen.

Sie haben bisher nur Australier interviewt. Glauben Sie, dass die Anschauungen der Filesharer überall auf der Welt gleich sind?

Der informationstechnische Kapitalismus funktioniert nicht überall auf der Welt gleich, also gibt es unterschiedliche Formen von Reaktionen darauf. Beispielsweise gibt es Zahlen aus Schweden, denen zufolge die unlizenzierten Musikdownloads nach Einführung des legalen Streaming-Dienstes Spotify sehr stark gesunken sind. Auch die in den USA sehr beliebte Netzvideothek Netflix hat die Piraterie sinken lassen und ist dort mittlerweile für einen großen Anteil des Datenverkehrs verantwortlich.

Aber auch hier gibt es Unterschiede, aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen für die Lizenzierung von Inhalten. Netflix bietet in den USA wesentlich mehr Filme an als in Großbritannien, also sind dort die Auswirkungen auf den BitTorrent-Verkehr nicht so stark. Diese Unterschiede gilt es im Auge zu behalten. Auch Ereignisse wie das Vorgehen gegen Megaupload haben ihre Auswirkungen. Viele Online-Speicherdienste haben danach entweder geschlossen oder ihre Geschäftsbedingungen und technischen Optionen geändert. Ich analysiere viele der Kommentare auf Plattformen wie Torrentfreak. Dabei wird schnell klar, dass viele Leute Online-Speicherdienste wie Megaupload verachten. Sie sagen, dass deren Betreiber Geld mit den Inhalten anderer Leute verdienen.

In Australien haben US-Medienkonzerne den Provider iiNet geklagt. Sie wollten alle Provider dazu zwingen, ihre Netze permanent zu überwachen und zu zensurieren. Ihr Ziel war es, einen weltweit Aufsehen erregenden Präzedenzfall zu schaffen. Der Provider hat sich gewehrt und das Höchstgericht hat ihm Recht gegeben. Nun machen die Medienkonzerne Druck auf die Politik, damit die Gesetze zu ihren Gunsten geändert werden. Die US-Konzerne sagen also: Wir hatten mit unserer Taktik in eurem Rechtssystem keinen Erfolg, also müsst ihr gefälligst eure Gesetze ändern. Die Streitigkeiten werden also weitergehen.

Wollen Sie auf die qualitativen Interviews mit einigen wenigen Filesharern noch eine quantitative Befragung mit vielen Teilnehmern folgen lassen?

Nein, das machen andere, wie die schwedische Universität Lund, die nun schon zum zweiten Mal mit Unterstützung der Pirate Bay eine große Umfrage unter Filesharern gemacht hat. Die Ergebnisse dieser zweiten Studie sind noch nicht publiziert worden. An der ersten Umfrage haben rund 75.000 Menschen teilgenommen, diesmal sollen es rund 100.000 sein. Ich selbst will mich weiter darauf konzentrieren, soziale Normen mit Hilfe qualitativer Interviews sichtbar zu machen.

Ich will wissen, wie die Leute heute mit Technologie umgehen. Ziel ist es, gemeinsam mit meinem Kollegen John Marshall aus Sydney ein Buch darüber zu schreiben. Am liebsten wäre mir, wenn dabei eins dieser "Airport Books" herauskäme, die Manager am Flughafen kaufen.

Dann können es die Unterhändler der nächsten ACTA-Version auf dem Weg zum Meeting lesen.

Genau. Und dabei herausfinden, was die Leute wirklich denken und dass es sich bei den Filesharern nicht nur um pickelgesichtige 16-Jährige handelt, sondern dass die gepflegte Dame im Flugzeugsitz neben ihnen auch dazu zählen könnte.

Günter Hack, ORF.at

Mehr zu dem Thema: