Standort: science.ORF.at / Meldung: ""Ein bewegender Tag für die Physik""

Bild von Protonenkollisionen am Teilchenbeschleuniger des Cern

"Ein bewegender Tag für die Physik"

Es spricht viel dafür, dass Physiker am 4. Juli die wichtigste Entdeckung seit langer Zeit präsentiert haben. Ob es sich bei dem neuen subatomaren Teilchen wirklich um das Higgs-Boson handelt, das anderen Teilchen Masse verleiht, ist noch nicht zu 100 Prozent klar. Bis Ende des Jahres soll sich das ändern.

Higgs-Teilchen 05.07.2012

Heute war für die Physik jedenfalls "ein bewegender Tag", wie Manfred Krammer vom Wiener Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in einem science.ORF.at-Interview meint.

science.ORF.at Die Gretchenfrage: Handelt es sich bei den neuen Resultaten um das Higgs-Teilchen oder nicht?

Porträtfoto des Physikers Manfred Krammer

ÖAW

Manfred Krammer ist stellvertretender Direktor des Instituts für Hochenergiephysik in Wien

Manfred Krammer: Das können wir jetzt noch nicht sagen. Mit Sicherheit steht fest: Es handelt sich um ein bisher unbekanntes Teilchen, und alle bisherigen Messungen sind kompatibel mit der Hypothese, dass es sich um das Higgs-Teilchen handelt. Wir konnten in den 14 Tagen zwischen dem Ende der Datensammlung und der heutigen Pressekonferenz aber noch nicht alle Daten auswerten und alle Parameter des Teilchens messen.

Wie lange wird die Klärung noch dauern?

Bis Ende 2012 werden wir die Daten verarbeitet haben. Wir müssen jeden Parameter des Teilchens messen und mit den theoretischen Vorhersagen des Higgs-Teilchens nach dem Standardmodell vergleichen.

Welche Parameter?

Zum Beispiel den Spin. Wir wissen, dass es sich um ein Boson handelt, aber nicht, ob der Spin 0, 1 oder 2 beträgt. Wenn es tatsächlich das Higgs-Boson des Standardmodells ist, sollte es den Spin 0 haben. Diese Messung steht aber noch aus.

Falls Sie Ende des Jahres draufkommen, dass es sich doch nicht um das Higgs-Teilchen handelt, was könnte es denn sein?

Das würde bedeuten, dass nicht die einfachste Variante des Standardmodells realisiert wurde, sondern ein komplizierteres theoretisches Modell. Die Theoretiker haben dazu andere Pfeile im Köcher, wie z.B. die Supersymmetrie.

Links:

Ö1 Sendungshinweise:

Über das neue Teilchen berichteten auch die Ö1 Journale und Wissen aktuell am 4.7.

Geben Sie uns ein bisschen Nachhilfe in Statistik, die Zusammenfassung der Entdeckung hieß von Seiten der CMS-Forscher heute wissenschaftlich exakt: "Wir haben ein neues Boson mit der Masse von 125,3 plus/minus 0,6 Gigaelektronenvolt entdeckt, mit einer Signifikanz von 4,9 Sigma". Was bedeutet das genau?

125 Gigaelektronenvolt ist ungefähr die 125-fache Protonenmasse, d.h. es handelt sich um das schwerste Boson, das wir bisher nachgewiesen haben. Beide Experimente - sowohl CMS als auch Atlas - haben unabhängig voneinander eine Signifikanz von ca. fünf Sigma. D.h. wenn ich in einer Welt, die kein Higgs-Boson hat, das CMS-Experiment drei Millionen Mal wiederhole, würde durch statistische Fluktuation ein solches Ergebnis, wie wir es heute präsentiert haben, nur einmal herauskommen.

Gibt es eine Schwelle der Signifikanz?

Das liegt genau bei diesen fünf Sigma. Aus der Wissenschaftsgeschichte weiß man, dass Signale, die darüber liegen, nicht mehr verschwinden. Signale, die geringer sind, können sich als statistische Fluktuationen oder Falschmessungen erweisen. Wir liegen also knapp über dieser Marke, und das mit zwei unabhängig voneinander durchgeführten Experimenten.

Der Theorie nach verleiht das Higgs-Boson anderen Teilchen die Masse, woher bezieht es selbst seine Masse?

Aus dem Higgs-Feld. Die Higgs-Theorie sagt ein universelles Feld voraus, mit dem die Elementarteilchen wechselwirken und dadurch ihre Masse bekommen. Dieses Feld kann aber vereinfacht ausgedrückt verklumpen, und dann entsteht das Higgs-Boson. Wenn es uns gelingt nachzuweisen, dass dieser Higgs-Mechanismus tatsächlich in der Natur realisiert ist, könnten wir damit ein Feld beweisen, das im ganzen Universum vorhanden ist.

Geht das anders als durch Protonenkollisionen auf der Erde, wie etwa mit dem Teilchenbeschleuniger am Cern?

Nein, mit derzeitigen Experimenten nicht. Die Manifestation des Felds ist das Higgs-Boson, in anderen Theorien wie z.B. der Supersymmetrie würde das Feld mehrere Bosonen produzieren. Die Aufgabe ist nun herauszufinden, ob wir es mit einem Teilchen zu tun haben, das dem Standardmodell entspricht oder eher dem supersymmetrischen Modell.

Gibt es zumindest theoretisch andere Nachweismöglichkeiten um das Feld zu belegen?

Jedes Teilchen wechselwirkt mit dem Feld und bekommt somit Masse. Insofern ist jede Massenmessung, wenn wir beweisen, dass es diesen Mechanismus gibt, ein Nachweis für das Feld. Die Manifestierung erfolgt durch dieses Boson, so ähnlich wie wir elektromagnetische Wellen durch Nachweis der Photonen belegen können.

Für Teilchenphysiker ist gerade eine sehr spannende Zeit …

Das stimmt, nachdem wir 20 Jahre investiert haben das Higgs-Teilchen zu finden, ist es schon sehr bewegend, nun einen Nachweis zu haben.

Es hat zwar Gerüchte vor der heutigen Präsentation gegeben, aber wirklich nach außen gedrungen ist vorher nichts. Ist die Physikergemeinde so geschlossen?

Meine Kollegen und ich kannten die Resultate des CMS-Experiments seit zwei Wochen, weil wir am Hephy da ja mitgearbeitet haben. Von der Übereinstimmung mit dem anderen Experiment Atlas - die sehr hoch ist - haben wir aber erst heute erfahren. Dabei geht es aber nicht um Geheimhaltung. Die beiden Experimente sollen nichts voneinander wissen, damit die Ergebnisse des einen nicht die des anderen beeinflussen. Wir analysieren unabhängig voneinander und zeigen uns auf Seminaren wie heute unsere Ergebnisse. Der einzige, der beide Resultate schon früher kannte, ist der Cern-Generaldirektor.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zu dem Thema: