Mit science.ORF.at sprach sie über den immer späteren Kinderwunsch, unfreiwillige Kinderlosigkeit und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
science.ORF.at: Warum werden in europäischen Ländern immer weniger Kinder geboren?

Universität Groningen/ Melinda Mills
Die Soziologin und Demografin Melinda Mills beschäftigt sich an der Universität Groningen in den Niederlanden mit soziologischen Fragen des Lebensverlaufs. Anlässlich der Marie Jahoda Summer School of Sociology der Universität Wien (2.-6. Juli) sprach sie über Fertilität und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Ö1 Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag im Dimensionen Magazin, 6.7., 19:05 Uhr.
Melinda Mills: Ein wesentlicher Grund ist, dass der eigentliche Kinderwunsch erst in einer viel späteren Lebensphase auftritt, als noch vor 40 Jahren. Seit den 1970er Jahren hat sich in Europa das Kinderkriegen im Lebenslauf um vier Jahre nach hinten verschoben. Das Durchschnittsalter von Frauen bei der Geburt des ersten Kindes ist in den meisten Ländern 29 Jahre.
Medizinisch gesehen ist die beste Zeit für das erste Kind Anfang 20. Welche Probleme bringt das hohe Durchschnittsalter der Erstgebärenden mit sich?
Viele Paare haben in diesem Alter bereits Probleme bei der Fortpflanzung. Die unfreiwillige Kinderlosigkeit ist massiv angestiegen. Neun Prozent der Paare zwischen 18 und 44 sind in Europa unfreiwillig kinderlos. Das heißt eines von zehn Paaren wollte Kinder, aber es hat nicht funktioniert. Die WHO bezeichnet diese unfreiwillige Kinderlosigkeit bereits offiziell als Krankheit. Und die UNO-Mitgliedsstaaten sind aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen und der WHO darüber zu berichten.
Aber auch die freiwillige Kinderlosigkeit nimmt zu.
Die Kinderlosigkeit ist insgesamt angewachsen, freiwillig oder unfreiwillig. Österreich ist hier ein gute Beispiel: Von den Frauen, die 1965 geboren worden sind, sind 19 Prozent kinderlos. Also zwei von zehn Frauen, die heute in ihren 40ern sind, haben keine Kinder. Das zeigt die massive Veränderung in punkto Geburtenraten. Und diesen Wandel sieht man in ganz Europa, vor allem in Westeuropa. Aus diesem Grund haben wir begonnen, uns mit dieser Geburtenverzögerung wissenschaftlich auseinander zu setzen. Wir wollen die Gründe herausfinden, warum Frauen und auch Paare das Kinderkriegen auf später verschieben.
Was sind die Gründe?
Wir haben eine Überblicksstudie gemacht, um die Gründe herauszuarbeiten. Dazu gehören natürlich institutionelle Faktoren, wie Kinderbetreuung. Ist die Kinderbetreuung leistbar, verfügbar, qualitativ hochwertig? Und da sieht man dramatische Unterschiede in Europa. Länder wie Dänemark und Schweden investieren einen großen Prozentsatz ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Kinderbetreuungseinrichtungen. Dort ist das kulturell und sozial akzeptiert, dass Frauen ihre Kinder nicht zuhause betreuen. Österreich befindet sich bei den Investitionen in Kinderbetreuungsplätze im europäischen Mittelfeld.
Weitere Faktoren sind der Bildungsgrad und die Berufsgruppe. Das dritte ausschlagebende Element ist der eigentliche Arbeitsplatz. Hat man dort die Möglichkeit flexibel zu arbeiten, vielleicht auch von zuhause aus, und unterstützt der Arbeitgeber das Nebeneinander von Beruf und Familie?
Und der vierte Aspekt sind Haushalt und Partnerschaft. Der wird häufig vergessen. In unserer Forschung haben wir die Arbeitsteilung im Haushalt mit analysiert. Bei berufstätigen Frauen, die den überwiegenden Teil der Hausarbeit erledigen, sinken Kinderwunsch und Geburtenrate. Es liegt also an den Institutionen, dem Haushalt, dem Arbeitsplatz und der individuellen Situation.
Können gesetzliche Maßnahmen helfen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken?
Viele Länder haben versucht, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine steigende Geburtenrate zu schaffen. Wir schreiben gerade an einem Bericht für die Europäische Kommission. Alle EU-Mitgliedsstaaten haben ein Abkommen unterzeichnet, in dem sie angeben, die "Barcelona-Ziele" erfüllen zu wollen. Dazu gehört, dass 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren bis 2010 einen Kinderbetreuungsplatz bekommen sollten und 90 Prozent der Schulkinder zwischen sechs und zwölf den Zugang zu einer Nachmittagsbetreuung. Alle haben dieses Abkommen unterzeichnet. Doch unser Bericht hat ergeben, dass weniger als die Hälfte dieser Länder die Ziele erfüllt hat.
Gibt es auch Länder, die diese Vorgaben umgesetzt haben?
Die Niederlande haben zum Beispiel für die Betreuungsplätze der ein- bis dreijährigen Kinder gesorgt. Aber diese Kinder sind im Durchschnitt nur zehn Stunden in der Woche im Kindergarten oder der Krippe. Das wird Frauen kaum helfen, den Beruf und die Familie unter einen Hut zu bringen.
Welche anderen Maßnahmen werden von der Politik gesetzt, um die Geburtenraten hinaufzutreiben?
In Russland wurde beispielsweise der sogenannte "Love Day" eingeführt. An diesem Tag sollen die Russen und Russinnen zuhause bleiben und sich wenn möglich fortpflanzen. Aber die häufigste Maßnahme sind finanzielle Belohnungen für das Kinderkriegen. Es gibt allerdings keinen wissenschaftlichen Beweis für die Wirkung solcher Finanzspritzen. Einzig eine kanadische Studie hat gezeigt, dass Finanzhilfen bei sozialschwachen Familien, die bereits Kinder haben, zu mehr Geburten führen. Aber gesamtgesellschaftlich gesehen, scheint ein Kinderbonus nicht besonders effektiv zu sein.
Aber müssten solche Prämien in Krisenzeiten nicht ein besonders interessanter Anreiz sein, um Kinder zu kriegen?
Das reicht nicht aus, um den Menschen ein Gefühl von Sicherheit zu geben. In den meisten europäischen Ländern wird gerade ein harter Sparkurs gefahren. Kinderbetreuungsplätze werden eher gestrichen, als eingeführt. Zudem hinterlässt die Krise bei den Menschen ein Gefühl der Unsicherheit. Sie sind unsicher wegen ihrer Jobs, unsicher wegen ihrer Zukunft.
Wir haben versucht, diese Unsicherheit zu messen. Wir haben gefragt, ob die Menschen einen befristeten Vertrag haben, ob sie Angst haben, ihre Anstellung im kommenden Jahr zu verlieren. Auch diese Ängste tragen zu einem Abfall der Geburtenrate bei. Die meisten wollen keine Familie gründen und sich niederlassen, wenn sie einen befristeten Vertrag haben. Männer haben zum Beispiel einen wesentlich kleineren Kinderwunsch, wenn sie für die Bank nicht kreditwürdig sind. Es gibt zahlreiche Studien, die empirisch belegen, dass diese Verunsicherung dafür sorgt, dass die Menschen in Europa weniger Kinder bekommen oder zumindest länger damit warten, Kinder zu kriegen.
Wenn gesetzliche Maßnahmen, internationale Abkommen und finanzielle Prämien die Geburtenrate nicht anheben können, welche Möglichkeiten bleiben der Politik dann noch?
Es wäre ratsam, über neue Möglichkeiten nachzudenken, wie Frauen bzw. Eltern Beruf und Familie miteinander vereinbaren können. Viele Eltern wollen arbeiten und Zeit mit ihren Kindern verbringen. Unsere Studien haben gezeigt, dass Eltern, die ihre Arbeitszeit flexibel gestalten können und sich nicht an einen fixen Arbeitsplatz halten müssen, einen größeren Kinderwunsch haben und auch mehr Kinder bekommen. Das nenne ich dann "tag-team-parenting". Die Eltern betreuen die Kinder als Team. Beide gehen arbeiten, aber zu unterschiedlichen Tageszeiten, und deswegen können sich beide um die Kinderbetreuung kümmern. Das könnte eine strategische Empfehlung für die Politik sein, Autonomie in der Arbeitswelt in diese Richtung zu fördern.
Interview: Marlene Nowotny, science.ORF.at
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