Wer am 4. Juli die Pressekonferenz des Europäischen Kernforschungszentrums Cern via Internet verfolgt hat, durfte komplizierte Diagramme und Statistiken der besten Physiker der Welt betrachten - um letztlich eine sehr einfache Botschaft zu empfangen: Der Teilchenzoo ist um ein neues, wichtiges Mitglied reicher, so viel steht nun fest. Die Gattung kennen die Physiker, aber die Spezies ist unbekannt.
Mit "Gattung" ist gemeint: Die Cern-Physiker präsentierten bei ihrer PK nebst anderem ein Kurvendiagramm mit einem kleinen Hügel, der offenbar ein Higgs-Teilchen oder ein Higgs-artiges Teilchen zeigte. Eines, das den anderen Teilchen dieser Welt ihre Masse verleiht, und zwar durch ein das Universum durchdringendes Energiefeld, das (fast) alle anderen Partikel abbremst und sie dadurch schwerer macht. So sieht es zumindest der nach dem britischen Physiker Peter Higgs benannte Mechanismus vor, wie er im Standardmodell der Elementarteilchenphysik formuliert wurde.
Wobei der letzte Satz schon eine gewisse Unsicherheit in sich trägt. Vielleicht ist das Standardmodell auch falsch und alles viel komplizierter.
Möglichkeit eins: Das Standardmodell stimmt. Dann wäre die Teilchenphysik gewissermaßen abgeschlossen und die Menagiere der Teilchen komplett. Das wäre einerseits ein Triumph der Wissenschaft, andererseits auch etwas langweilig. Denn insgeheim hoffen die meisten Physiker, dass sich hinter den nun aus dem Datenwust destillierten Signalen eine neue Physik verbirgt.
Für diese Hoffnung sprechen auch physikalische Argumente: Das nun nachgewiesene Partikel ist nämlich ein sogenanntes skalares Teilchen, d.h. sein Spin, eine Art Eigendrehimpuls, hat wahrscheinlich den Wert Null (oder, was noch nicht auszuschließen ist, den Wert Zwei).
Im Rahmen des Standardmodells ist das nicht ganz einfach zu deuten, "Hierarchieproblem" nennen das die Fachleute: "Teilchen mit einem Spin Null sollten eigentlich eine extrem hohe, wenn nicht gar unendlich hohe Masse haben", sagt Matthias Neubert von der Universität Mainz. Tatsächlich ist das Higgs-Teilchen aber nur so schwer wie 125 Protonen. Warum so leicht?
"Das, was wir bei den Experimenten am Cern gemessen haben, setzt sich eigentlich aus zwei Teilen zusammen. Die nackte Masse des Higgs-Teilchens und Quantenfluktuationen, die die Masse des Teilchens verändern", sagt Neubert. Die Quantenfluktuationen sollten laut Theorie in der Größenordnung von zehn Billiarden Protonenmassen liegen und lassen von der nackten Masse nur einen vergleichsweise lächerlichen Bruchteil - eben die erwähnten 125 Protonenmassen - übrig.
"Das wäre unnatürlich"
Warum sich die beiden Werte fast - aber nicht ganz - neutralisieren, kann das Standardmodell nicht erklären. Man könnte sich bestenfalls auf den Standpunkt zurückziehen, "dass die Naturkonstanten eben extrem fein abgestimmt sind", so Neubert. Wäre das nicht so, dann könnte es auch keine Materie in der uns bekannten Form geben. Und somit auch kein Leben und keine Forscher, die den Naturgesetzen auf die Spur kommen wollen.
"Manche Physiker sagen, wir leben in einem Multiversum aus 10 hoch 500 Universen. Und unseres ist eben jenes, in dem diese Werte zufällig so sind, wie sie sind", sagt Christian Fabjan, Direktor des Wiener Instituts für Hochenergiephysik. "Ich halte diese Lösung für unbefriedigend." Damit ist Fabjan nicht alleine. Den Zufall für eine extrem unwahrscheinliche Abstimmung zu bemühen, halten viele für "unnatürlich".
Man könnte auch sagen: hässlich, weil willkürlich. Was eigentlich kein physikalisches, sondern ein ästhetisches Argument ist: "Stimmt", sagt Fabjan, "aber die Schönheit von Formeln hat der Physik schon oft den richtigen Weg gewiesen."
Einzelgänger oder Familie?
Daher favorisieren viele Physiker Möglichkeit Nummer zwei: Das Standardmodell muss erweitert werden. Die bekannteste und möglicherweise auch aussichtsreichste Variante wäre die sogenannte Supersymmetrie-Theorie, kurz SUSY. Sie erweitert den theoretischen Bezugsrahmen durch Einführung neuer Symmetrien. Das hätte den Nachteil, dass die zurzeit bekannten Teilchen noch nachzuweisende Partner besitzen.
Das Higgs-Boson wäre in diesem Fall kein Einzelgänger, sondern Repräsentant einer ganzen Familie. Es müsste demnach noch vier weitere Verwandte in höheren Energie- bzw. Massebereichen besitzen.
Ian Low von der Northwestern University hat nun einige Theorievarianten mit den aktuellen Messergebnissen verglichen und kommt zu dem Schluss, dass sowohl die Einzelgänger- als auch die Familienmodelle reelle Chancen besitzen. Letztere nennt er "Higgs impostors", also Hochstapler. Wiewohl man das auch umgekehrt sehen kann. Wären die aktuellen Signale nur die Spitze eines Eisberges, käme das eigentlich eher Tiefstapelei gleich.
Wie dem auch sei, im Rahmen von SUSY wäre der Teilchenzoo jedenfalls bedeutend größer und die Suche nach seinen Mitgliedern begänne von Neuem. Ansonsten würden die Vorteile überwiegen. SUSY könnte das Hierarchieproblem sehr elegant lösen ohne bei Multiversen, Zufällen oder anderen Abkömmlingen des anthropischen Prinzips Zuflucht nehmen zu müssen.
"Sie wäre auch ein vielversprechender Kandidat für die Dunkle Materie", sagt Fabjan. Letztere brauchen die Astronomen, um die Bewegungen der Galaxien erklären zu können - die Supersymmetrie könnte die entsprechenden "Dunklen" Teilchentypen aus dem Hut zaubern. "Und nicht zuletzt ist SUSY auch eine Theorie, die drei der vier physikalischen Grundkräfte vereinigen könnte", so Fabjan. Als da wären: Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft.
Über die Gravitation sagt SUSY nichts. Allerdings es gibt bereits Erweiterungen, die auch die Schwerkraft mit ins Boot holen könnten. "Ich bin überzeugt, dass die Welt supersymmetrisch ist", sagt Christian Fabjan. "Darauf gehe ich jede Wette ein." Ob er richtig liegt oder nicht, wird sich freilich erst dann zeigen, wenn der Teilchenbeschleuniger des Cern nach einem Neustart mit doppelter Energie arbeitet. Das soll Ende 2014 der Fall sein.
"Raffiniert ist der Herrgott ..."
Möglichkeit zwei b wären Theorien, die ohne ein Higgs-Teilchen auskommen. Solche "Higgsless models" sind nach Ansicht von Matthias Neubert durch die aktuellen Messungen höchstwahrscheinlich ausgeschlossen. Soll heißen: Higgs existiert. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass das Teilchen wieder verschwindet.
Nicht ausgeschlossen ist indes Möglichkeit zwei c, eine Art Mittelweg zwischen SUSY und "Higgsless": Diesen Modellen zufolge ist das Higgs-Teilchen nicht elementar, sondern tritt als Bindungszustand anderer Teilchen auf. Das wäre etwa dann möglich, sofern das Universum noch einige "kompaktifizierte" Extradimensionen besäße, die sich nur im mikroskopischen Bereichen bemerkbar machen würden. Weitere theoretische Verwicklungen nicht ausgeschlossen.
"Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht", sagte Albert Einstein einmal. Ob er tatsächlich nicht boshaft ist, müssen weitere Experimente zeigen. Apropos Herrgott: Das Gottesteilchen, wie das Higgs-Boson mitunter genannt wird, hat seinen Namen vom Physik-Nobelpreisträger Leon M. Lederman. Er schrieb 1993 ein populäres Buch mit dem Titel: "The Goddamn Particle". Doch der Verlag lehnte ab. So wurde "The God Particle" daraus - und nun werden die Physiker Gott nicht mehr los.
Robert Czepel, science.ORF.at
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