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Das Wort "Weiterbildung" im Zentrum anderer Begriffe.

"Weiterbildung ist das Gebot der Stunde"

In einer globalisierten Wissensgesellschaft sind gut ausgebildete Arbeitskräfte ein treibendender Wettbewerbsfaktor. Die bereits in der Gesellschaft vorhandenen Potenziale sollten genützt werden. Der Ausbau beruflicher Weiterbildung muss Teil dieser Strategie sein, unterstreicht der Soziologe Martin Baethge.

Technologiegespräche Alpbach 03.08.2012

Er spricht im Interview mit science.ORF.at über den demographischen Wandel und die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Jugendliche und Erwachsene mit Migrationshintergrund müssen in das Erwerbsleben integriert und Frauen Vollzeit in den Beruf geholt werden. Das erfordert neue Bildungs- und Unternehmensstrategien.

Soziologisches Forschungsinstitut an der Universität Göttingen

Der Soziologe und Demograph Martin Baethge ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstitutsan der Universität Göttingen (SOFI). Er ist Co-Autor des Deutschen Bildungsberichts 2012, der dieses Jahr mit einem Schwerpunkt zu kultureller Bildung im Lebenslauf erschienen ist.

sicence.ORF.at: Das Problem der Überalterung der Gesellschaften in Österreich und Deutschland ist bekannt. Welche Konsequenzen haben diese demographischen Entwicklungen für den Arbeitsmarkt?

Martin Baethge: Die Entwicklung ist im gesamten deutschsprachigen Bereich sehr ähnlich. Ich gebe ihnen ein Beispiel für Deutschland: Zwischen 2010 und 2025 wird der Anteil der Jugendlichen unter 30 Jahren um 4,2 Millionen, also 16 Prozent, zurückgehen. Das zeigt ganz klar, dass beim Nachwuchs der Arbeitskräfte schnell Engpässe entstehen können.

Wie kann man also Vorsorge treffen, damit weder die ökonomische noch die soziale Leistungsfähigkeit der Gesellschaft abnimmt? Wenn die demographische Entwicklung so weiter geht, dann wird sich bis 2025 der Anteil von Jugendlichen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, sowohl einer Lehre als auch eines Hochschulstudiums, um 24 Prozent verringern. Und gleichzeitig wird natürlich der Anteil der älteren Bevölkerung, der über 65-jährigen, die aus dem Erwerbsleben austreten, immer größer. Dieses Spannungsverhältnis muss gelöst werden.

Welche Maßnahmen müssen getroffen werden, besonders in Bezug auf das Bildungswesen?

Ö1 Sendungshinweis:

Über die Thesen von Martin Baethge berichtet auch Wissen aktuell am 3.3. um 13:55.

Dieses Thema ist 2010 und 2012 im Deutschen Bildungsbericht, an dem ich seit Jahren mitarbeite, behandelt worden. Es müssen allen voran die endogenen Potenziale aktiviert werden. D.h., das bereits in der Gesellschaft vorhandene Arbeitsvermögen und die verfügbare Bildungsfähigkeit müssen ausgeschöpft werden.
In Zukunft werden auf dem Arbeitsmarkt vor allem mittel- und hochqualifizierte Arbeitskräfte nachgefragt werden, also Facharbeiter und Hochschulabsolventen. Deswegen ist es unumgänglich in die Schuldbildung zu investieren, um bei den Jugendlichen eine solide Wissensbasis für die spätere Ausbildung schaffen zu können.

Ein weiteres endogenes Potenzial sind die Frauen. In Deutschland haben wir zum Beispiel viele gut ausgebildete weibliche Arbeitskräfte und die müssen stärker in die Erwerbsarbeit einbezogen werden. Frauen sollten demnach weniger Teilzeit arbeiten und familienbedingt nicht so lange aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

Welche sozialen Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um das zu erreichen?

Man muss institutionelle Voraussetzungen schaffen, damit Frauen die Sicherheit haben, dass sie Kinder bekommen können und gleichzeitig arbeiten können, weil für diese Kinder ansprechende, bedürfnisgerechte Betreuungsplätze vorhanden sind. Also Kindertagesstätten, in die die Mütter ihre Kinder guten Gewissens geben können.

Sind die Frauen also unfreiwillig in längerer Karenz oder Teilzeit?

Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Mütter tatsächlich mehr arbeiten würde, wenn ihnen vernünftige Arbeitsplätze angeboten würden. Denn, dass viele nur Teilzeitarbeit arbeiten, hängt ja nicht allein an der Familiensituation, sondern auch den Unternehmen, die vielfach nur Teilzeitkräfte suchen. Diesen Frauen werden gar keine Vollzeitjobs angeboten. Es hängt nicht nur an den mangelnden Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren, sondern auch an der gegenwärtigen Unternehmenspolitik und -kultur.

Technologiegespräche in Alpbach

Von 23. bis 25. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Globale Zukunft - Erwartungen an Wissenschaft und Technologie".

Davor erscheinen in science.ORF.at regelmäßig Interviews mit den bei den Technologiegesprächen vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Martin Baethge nimmt am 24. August am Arbeitskreis "Demographie und Humankapital als Chance für Innovation" teil.

Weitere Beiträge zu den Technologiegesprächen 2012:

Beiträge zu den bisherigen Technologiegesprächen

Müssen auch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund verstärkt gefördert werden, um die vorhandenen gesellschaftlichen Potenziale nützen zu können, ?

Die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind natürlich ein endogenes Potenzial. Die meisten besitzen ja bereits die deutsche oder österreichische Staatsbürgerschaft. Der Deutsche Bildungsbericht zeigt zum Beispiel, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund und ausländische Jugendliche in der Berufsausbildung nach wie vor benachteiligt werden. Sie haben eine viel geringere Beteiligungsquote als die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund.

Eine Bedingung dafür ist natürlich der Spracherwerb bzw. die Sprachfähigkeit, die gefördert werden müssen. Aber es geht auch darum, kulturelle Barrieren abzubauen. Es gibt zum Beispiel eine große Zahl junger türkischer Frauen, die weder in Ausbildung noch im Berufsleben sind. Da spielen Familienmuster und kulturelle Faktoren eine ganz wesentliche Rolle. Und deswegen geht es nicht allein um den Zugang zu Sprachbildung und einer besseren Allgemeinbildung, sondern auch um eine kulturelle Bildung, die die Familien miteinbezieht.

Die jungen Frauen, und natürlich auch die jungen Männer, sollen ein Bewusstsein dafür bekommen, dass, um sich in dieser Gesellschaft frei bewegen zu können, eine abgeschlossene Berufsausbildung sehr wichtig ist. Und auch von der Unternehmerseite her, muss ein tolerantes Umdenken gefördert werden.

Wie könnten etwaige politische Maßnahmen aussehen, um solche integrationsfördernden Bildungsstrategien durchzusetzen?

Es muss in Aus- und Weiterbildung investiert werden, und zugleich in Sprach- und Familienbildung. Vieler dieser Maßnahmen müssen sicher über den Arbeitgeber, also die Unternehmen und Betriebe laufen, weil man diese Personengruppen sonst nur sehr viel schwerer erreichen kann. Und es wäre sehr wichtig, die Anerkennung im Ausland erworbener Berufsbildungs- und Hochschulabschlüsse zu erleichtern. Da gibt es großes berufliches Potenzial, das brach liegt, weil die Ausbildung von Menschen aus anderen Ländern in Österreich oder Deutschland nicht anerkannt wird.

Welche Rolle spielt berufliche Weiterbildung als Wettbewerbsfaktor in einer globalisierten Arbeitswelt?

Man darf die demographische Entwicklung nicht isoliert betrachten, sondern muss auch den Kontext der sozioökonomischen Trends sehen, wie etwa den Wandel zur Dienstleistungsökonomie, die verstärkte Wissensbasierung von Arbeit und Wirtschaft und die zunehmende Internationalisierung der Wertschöpfungsketten und Arbeitsmärkte. Diese Veränderungen passieren ja nicht unabhängig von der demographischen Entwicklung, sondern sind integraler Bestandteil der demographischen Probleme.

Und deswegen ist das erste Gebot einer vernünftigen Humankapitalstrategie, alle Beschäftigten, die jetzt aktiv im Erwerbsleben stehen, durch Weiterbildung für die neuen Herausforderungen des Arbeitsmarktes fit zu machen. In den letzten zehn Jahren ist in diesem Bereich viel zu wenig passiert. Weder die öffentlichen Einrichtungen, noch die privaten Unternehmen haben berufliche Weiterbildung zur ihrer Strategie gemacht. Ganz im Gegenteil, sie haben die Weiterbildung zurückgefahren, im besten Fall noch stagnieren lassen. Obwohl jeder weiß, dass ein Ausbau der Weiterbildung das Gebot der Stunde ist.

Bei der gegenwärtigen Unsicherheit der Arbeitsmärkte, ist es ungemein wichtig, dass die Beschäftigten arbeitsmarktfähig bleiben bzw. werden. Man muss die funktionale Flexibilität der Arbeitskräfte deutlich erhöhen, damit sie sich selbstständig auf dem Arbeitsmarkt bewegen und auch neue Beschäftigungsverhältnisse eingehen können.

Interview: Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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