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Symbolbild: Ökonomie und Aktienkurse

Neues Tool sieht Finanzkrisen voraus

Die Nachwehen der Finanzkrise 2008 belasten noch immer die Weltwirtschaft. Nach Schweizer Forschern hätte der Beinahe-Kollaps der Märkte verhindert werden können. Sie haben ein Instrument entwickelt, um die Stabilität des globalen Finanzsystems in Echtzeit zu überwachen. Mögliche Krisen könnte man damit bereits im Voraus erkennen.

Netzwerkforschung 03.08.2012

Der Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers im September 2008 hatte die Finanzkrise ausgelöst und die Märkte in Schockstarre versetzt. Während Lehman in die Insolvenz schlitterte, wurden andere Banken aus ihren Notlagen gerettet, weil sie als "too big to fail", nämlich als zu systemrelevant und zu groß galten, um unterzugehen.

Vernetzung wichtiger als Größe

Nach Wirtschaftsforschern der ETH Zürich komme es aber nicht auf die Größe der Banken an, ob sie ein Risiko für das Finanzsystem darstellen. Vielmehr gehe es darum, wie stark sie mit anderen Instituten vernetzt sind - und zwar ob sie als "too central to fail" gelten, wie sie im Online-Journal "Nature Scientific Reports" schreiben.

Die Studie in "Nature Scientific Reports":

"DebtRank: Too Central to Fail? Financial Networks, the FED and Systemic Risk" von Stefano Battiston et al.

Die Wissenschaftler analysierten Daten der amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed) von August 2007 bis Juni 2010, in denen Angaben etwa zur Kapitalisierung oder ausstehenden Schulden von 407 Banken aufgelistet waren. Die Fed hatte diesen Finanzinstituten am Höhepunkt der Finanzkrise satte 1,2 Billionen Dollar an Hilfskrediten zukommen lassen, um damals den Kollaps des US-Finanzsystems zu verhindern. Drei Viertel dieser Summe entfielen auf nur 22 Banken, die jeweils mit mindestens 5 Milliarden Dollar verschuldet waren. Auf diese Banken fokussierten sich die Zürcher Forscher.

Die 22 Institute, darunter etwa Barclays, Citigroup oder Deutsche Bank, fungierten als der Kern des globalen Finanzsystems und waren über Kreditbeziehungen, Beteiligungen und Abhängigkeiten derart miteinander verflochten, dass schon der Zahlungsausfall einer einzelnen Bank das gesamte System in den Abgrund gerissen hätte. Selbst ein kleines, aber stark vernetztes Institut hätte den Forschern zufolge durch einen Zusammenbruch eine Domino-Reaktion auslösen und viele andere Banken ins Wanken bringen können.

Banken auf Basis von Google analysieren

Um zu überprüfen, wie zentral und vernetzt eine Bank ist und welches Risiko ihr Kollaps für das Finanzsystem hätte, entwickelten die Forscher das Tool "DebtRank". Sie griffen dabei auf Methoden der Netzwerkforschung zurück und kombinierten diese mit dem "Page-Rank"-Algorithmus, auf dem die Internet-Suchmaschine Google basiert. Bei "Page-Rank" werden Webseiten umso höher gewichtet, je mehr Links darauf verweisen. Mit dem "DebtRank"-Algorithmus wurde die Systemrelevanz einer Bank berechnet und umso höher gewichtet, je stärker sich ihre Notlage auf andere Institute auswirken würde.

"Viele Wirtschaftsforscher betrachten Finanzsysteme als komplexe Netzwerke. Die Finanzinstitute stellen darin die Knoten dar, und die Links zwischen den Knoten bilden die finanziellen Abhängigkeiten der Banken ab", sagt ETH-Forscher Stefano Battiston.

Grafik zu den Finanzmärkten

ETH Zürich, Battiston et al.

Die "Debt Rank"-Werte der 22 untersuchten Banken, die anzeigen, wie wahrscheinlich ein Zahlungsausfall einer Bank ist. Die roten Blasen heben besonders fragile Institute hervor. Vor der Finanzkrise 2008 waren alle Banken im sicheren Bereich nahe 0 gewesen, während der Krise zog dieser Wert rasant an. Nach den Zürcher Forschern bedeutet das, dass ein Crash einer dieser Banken die anderen gefährden würde.

Spirale zeigt Risiko an

Anhand der Fed-Daten kalkulierten die Wissenschaftler für jede der 22 Banken einen "DebtRank"-Wert, der zwischen 0 und 1 rangierte. Der Wert sagt aus, wie wahrscheinlich der Zahlungsausfall (Default) eines Finanzinstitutes ist und inwiefern die Kreditwürdigkeit anderer Banken im Netzwerk dadurch geschädigt wäre. Ein Wert von 0 bedeutet, dass ein Default einer Bank kein Risiko für das Netzwerk darstellen würde, wohingegen ein Institut mit einem Wert von 1 das gesamte Netzwerk gefährden würde. Auf einer Spirale wären die Banken mit 0 ganz außen, jene mit 1 im Zentrum.

Die Schweizer Forscher fanden heraus, dass ein Jahr vor der Finanzkrise 2008 alle 22 Institute im Schnitt einen "DebtRank"-Wert von 0,08 hatten und ganz außen auf der Spirale waren – es bestand also keine Gefahr für einen Zusammenbruch. In der Krise schnellte dieser Wert auf 0,52, bei Banken wie der Royal Bank of Scotland oder JP Morgan sogar auf knapp 0,8. Wären diese Institute kollabiert, hätten sie alleine 70 Prozent des Gesamtwertes des Netzwerks vernichten und einen systemischen Default herbeiführen können. Die Interventionen von Notenbanken wie der Fed verhinderten damals dieses Szenario.

Netzwerkinstrument wie Wettervorhersage

Nach den Wissenschaftlern könnte das Netzwerk-Tool "DebtRank" die globalen Finanzaktivitäten in Echtzeit überwachen und vor drohenden Gefahren warnen – so wie eine Wetterprognose vor Unwettern. Sie behaupten, dass ihr Tool die Finanzkrise 2008 vorhergesehen und so das wirtschaftliche Desaster unterbunden hätte. Finanzmarkt-Regulierer könnten mit "DebtRank" bereits vorher potentielle Probleme erkennen und intervenieren, bevor das gesamte System zu kollabieren drohe. Zudem hätten die Regulierer genug Zeit, Auswirkungen von verschiedenen Interventionsarten zu skizzieren, um dann zur bestmöglichen Lösung zu kommen.

Derzeit testen die Forscher "DebtRank" gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank und anderen Notenbanken. Damit Finanzmarktaufseher das Tool verwenden könnten, bräuchten sie ständige Updates von allen Transaktionen, Schuldenständen, Bilanzen oder Assets von börsennotierten Instituten weltweit. Da aber die meisten globalen Finanztransaktionen vertraulich sind und es zudem keine internationale Aufsicht gibt, sei "DebtRank" zurzeit nicht möglich. Die Wissenschaftler hoffen aber, dass sich das künftig ändert und ihr Tool Finanzkrisen wie 2008 vorhersehen und damit verhindern werde.

David Donnerer, science.ORF.at

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