Religion in der Gesellschaft und in der Schule
Von Bert Roebben
Über den Autor:

Bert Roebben
Bert Roebben ist Professor für Religionsdidaktik am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund.
Seminare beim Forum Alpbach:
Bert Roebben leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2012 das Seminar "Faith of the Future and the Future of Faith" (17.- 22.8.2012). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen und Interviews vor.
Links:
Literatur:
Bert Roebben, Religionspädagogik der Hoffnung. Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmoderne, Berlin, Lit-Verlag, 20112.
Ö1-Hinweise
Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2012 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in "Wissen aktuell", in den "Dimensionen" und bei der Kinderuni.
Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.
Sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft setzt den Dialog voraus über das, was Menschen unmittelbar angeht: Lebenserwartungen, Grundwerte und Sinnorientierungen. Die großen Weltreligionen und Weltanschauungen setzten sich mit diesen Fragen auseinander.
Die Schule kann als "Mikrokosmos" in unseren hochkomplexen und pluralisierten Gesellschaften der Ort sein, um kommunikativ mit solchen Themen umzugehen. Ich vertrete die Position, dass Kindern und Jugendlichen nicht nur gelehrt werden muss, wie sie miteinander leben und lernen können, sondern dass sie auch ein Recht darauf haben, die Kompetenz der Aneignung und Begründung der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Position zu erwerben.
Ohne diese persönliche Beziehung zum Thema gibt es keinen guten interreligiösen Dialog in der Gesellschaft. Dialog setzt das Anderssein jedes Menschen voraus. Die moderne Schule kann ein Freiraum bieten, um (die fremde und die eigene) Religion oder Weltanschauung in diesem Zusammenhang besser kennen zu lernen und vernünftig und selbstständig zu vertreten.
Schule und Weltbegegnungen
Eine gute Schule lehrt Kindern und Jugendlichen verschiedene Sprachspiele, um die fesselnde aber zugleich komplizierte Wirklichkeit rundum wahrzunehmen: sprachlich, mathematisch, geographisch, literarisch, naturwissenschaftlich, usw. Im Religionsunterricht, so wie er in vielen Staaten Europas organisiert ist, wird die religiöse oder weltanschauliche Dimension der Wirklichkeit erschlossen.
Kinder und Jugendliche lernen dann aufgrund religiöser und weltanschaulicher Kommunikationsformen von früher und heute, existenzielle Fragen wahrzunehmen, zu beurteilen und zu beantworten.
Solche slow questions über Ursprung, tragenden Grund und Sinnorientierung des Lebens tauchen immer wieder und in verschiedenen Gestalten auf. Der deutsche Erziehungswissenschaftler Jürgen Baumert bezeichnet die verschiedenen Annäherungen der Wirklichkeit, inklusive der theologischen, als "Modus der Weltbegegnung".
Jede Art von Wahrnehmung hat sein eigenes Wirklichkeitsverständnis. Zum Beispiel in der Literatur, in den Naturwissenschaften und der Theologie gibt es Vereinbarungen über das, was vernünftig und begründbar ist, wenn man versucht, die Wirklichkeit aus dieser bestimmten Perspektive zu betrachten, zu beurteilen und zu verstehen. In dieser Matrix von Rationalität ist Bildung an der Schule verankert.
Schule und Persönlichkeitsbildung
Bildung bedeutet aber auch mehr. Es handelt sich um die Person, die mit diesen vernunftgeleiteten Kenntnissen umgehen muss, die sich, mit anderen Worten, damit vernünftig auseinandersetzen muss. In komplexen Gesellschaften wie bei uns in Europa hört man oft die Frage: "Was kann, was muss ich damit anfangen?" Allgemeine Bildung lässt sich anders ausgedrückt nicht von Persönlichkeitsbildung entkoppeln.
Ich spüre in unserem aktuellen Bildungskontext ein erhöhtes Interesse an der Persönlichkeitsfrage. Die Sache ist das eine; die Person, die das Sehen, Urteilen, Handeln vernünftig vollziehen muss, das andere. Meiner Meinung nach offenbart sich die Frage der menschlichen Person innerhalb der Bildung heutzutage in zwei konkreten Gestalten: als Frage von Kindern und Jugendlichen nach persönlicher Lebensorientierung und als Frage nach dem "Mit" des "Miteinanders" der Gesellschaft, nach sozialer Kohäsion inmitten der Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Lebensentwürfen.
Die Frage nach der Verbindlichkeit steht dabei im Zentrum: Was verbindet uns bedingungslos miteinander? Und wie kann die Einzigartigkeit jedes Individuums und jeder Gruppe verbindlich zu einem common good oder Gemeinwohl aller beitragen?
Pro Religionsunterricht
Mit diesem breiten Konzept von Bildung entstehen für das Subjekt neue und interessante Fragen: "Was mache ich mit meinem Wissen, und was macht mein Wissen mit mir? Wie wird mein 'Ich' zu Hause, in der Schule und anderswo 'gebildet'? In welcher Form möchte ich später selbst einen Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft liefern? Wie verhalten sich in meiner Wissensentwicklung 'Wissen und Gewissen', 'Wissen und Ethik'? Wie gehe ich verantwortungsvoll mit anderen um? Wie gewinne ich Informationen über andere Standpunkte und inwiefern lasse ich sie zu meinem eigenen Lebensprojekt werden?"
Es erscheint sinnvoll, dass diese Fragen in der Öffentlichkeit des Lernorts Schule zur Sprache kommen dürfen. Religionsunterricht stellt dafür einen geeigneten Raum dar. Er bietet ein Wirklichkeitsverständnis sui generis, das nicht durch andere Sprachspiele zu ersetzen ist.
Ob dieser Religionsunterricht konfessionsgebunden oder konfessionsfrei organisiert werden muss, ist an dieser Stelle nicht unmittelbar relevant. Ziel soll es sein, Religionsunterricht in Europa erneut zu legitimieren, als einen Ort, an dem Lebensfragen wahrgenommen und ernst genommen werden dürfen und an dem es vernünftige Interpretationsmuster gibt, um solche Fragen überhaupt zu verstehen und auch beantworten zu können.
Mehr zu dem Thema:
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