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Eine Nervenzelle unter dem Mikroskop

Unser Gehirn, alles andere als statisch

Lange Zeit galt die Lehrmeinung, dass sich nach der Geburt keine neuen Nervenzellen mehr in unserem Gehirn bilden können und einmal angelegte neuronale Schaltkreise unveränderbar sind. Heute weiß man: Das Gehirn ist bis ins hohe Alter alles andere als statisch, wie die Neurobiochemikerin Christine Bandtlow in einem Gastbeitrag betont.

Forum Alpbach 2012 17.08.2012

Plastizität und Regeneration des Gehirns

Von Christine Bandtlow

Über die Autorin:

Porträtfoto der Neurobiochemikerin Christine Bandtlow

Christine Bandtlow

Christine Bandtlow leitet die Sektion Neurobiochemie an der Medizin Universität Innsbruck.

Seminar beim Forum Alpbach:

Christine Bandtlow leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2012 das Seminar " Brain Plasticity and Regeneration " (17.- 22.8.2012). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen und Interviews vor.

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Ö1 Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2012 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in "Wissen aktuell", in den "Dimensionen" und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Das Gehirn ist zwar nicht das größte, aber bei weitem das faszinierendste und komplizierteste Organ des menschlichen Körpers. Im Laufe der letzen zwei Millionen Jahre hat das durchschnittliche Gehirnvolumen um ca. 45 Prozent zugenommen. Anatomischen Vergleichen zufolge sind vor allem Stirn- und Schläfenlappen der Großhirnrinde überproportional gewachsen, Regionen also, die verantwortlich sind für Wahrnehmung, Handlungsplanungen und auch Sprechfähigkeit.

Doch war es diese Extraportion grauer Zellen, die den Menschen das Potenzial für anspruchsvolle geistige Tätigkeiten verschafft hat? Mit schätzungsweise 86 Milliarden Nervenzellen (Neurone) und Trillionen von Stütz-, sogenannten Gliazellen, ist das Gehirn der Sitz unseres Ichs, unserer Persönlichkeit. Es kontrolliert Körperaktivitäten, wie Herzfrequenz, Atmung, Sexualität, Schmerz, Emotionen, Lernen und Gedächtnis und beeinflusst vermutlich auch die Immunantwort bestimmter Krankheiten.

Doch die Bewerkstelligung dieser Leistungen hängt nicht in erster Linie von der Anzahl an Neuronen ab, sondern von der Art und Qualität der Verbindungen, die Neurone untereinander und mit anderen Zellen eingehen.

Milliarden Neuronen, Billionen Synapsen

Neurone sind hochspezialisierte Zellen mit genau definierten Aufgabenbereichen, die Informationen an andere Nerven-, Muskel- oder Drüsenzellen übertragen. Sie sind die funktionellen Grundeinheiten unseres Gehirns. Durch ihre vielfältige Verschaltung entstehen Netzwerke, über die sie ständig miteinander kommunizieren. Dabei überzeugen Nervenzellen als kommunikationsstarke Teamplayer.

Obwohl ein Neuron über Kontaktstellen, den Synapsen, mit mehr als 10.000 anderen Nervenzellen in permanentem Informationsaustausch treten kann, bewahrt es den Überblick und leitet die integrierten Signale über große Netzwerke weiter - und das immer in Absprache mit anderen Zellen.

Eine Leistung, die höchste Präzision erforderlich macht und jeden Hochleistungscomputer in den Schatten stellt. Denn um wenige Minuten an neuronaler Kommunikation von einigen 100.000 Neuronen zu simulieren brauchen mehrere parallel rechnende Computer einige Stunden. Kein Wunder also, dass ein Großteil unseres Energiehaushalts für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns nötig ist.

Doch woher wissen die rund 100 Billionen Synapsen in unserem Gehirn eigentlich, an welche Nervenzellen sie Information weitergeben müssen? Und wie findet die Nervenfaser eines Neurons ihren Weg, um schließlich die richtige Zielzelle aufzuspüren und an der richtigen Stelle eine Synapse zu erzeugen?

Antworten zu diesen Fragen der Hirnentwicklung sind nicht nur von medizinischer Relevanz, um neurologische und psychiatrische Krankheiten, die auf fehlerhaften Verschaltungen beruhen, besser zu verstehen, sondern auch von großer Bedeutung für Fragen der Regeneration im erwachsenen Nervensystem.

Von wegen statisch ...

Lange Zeit dominierte die Lehrmeinung, dass neuronale Schaltkreise, die während der Entwicklung des Nervensystems angelegt wurden, fest verdrahtet und nicht mehr zu verändern sind. Außerdem galt erwiesen, dass sich nach der Geburt keine neuen Nervenzellen mehr bilden können, stattdessen sich die Zahl an Neuronen im Laufe eines Lebens unaufhaltsam verringert. Der evolutionäre Gewinn eines hoch komplexen Gehirns mit enormer Leistungsfähigkeit hat eben seinen Preis.

Doch so statisch und hard-wired, wie jahrzehntelang angenommen, ist das menschliche Gehirn nicht. Im Gegenteil, die moderne Hirnforschung zeigt, dass sich unser Gehirn ständig verändert und den jeweiligen Gegebenheiten laufend anpasst - es ist plastisch (griechisch plastikos = formend).

Plastizität bedeutet, dass einerseits bestehende Verbindungen verstärkt, d.h. empfindlicher werden, zum anderen aber auch dynamisch umgebaut werden können, bis hin zur Entstehung komplett neuer Verbindungen. Bis zum 20. Lebensjahr verstärken sich synaptische Verbindungen, wobei insbesondere während der Pubertät am meisten auf-, ab- und umgebaut wird.

Diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns bildet eine entscheidende Grundlage für Lern- und Gedächtnisvorgänge. Das mag auch erklären, warum das Lernen im Alter deutlich schwerer fällt. Doch auch wenn die Leistung einiger Hirnregionen im Alter abnimmt, verstärken dafür andere Areale ihre Aktivität. Altersbedingte strukturelle Veränderungen kann unser Denkorgan wenigstens zum Teil auf Grund seiner funktionellen Plastizität wieder auffangen.

Lebenslange Anpassung

Dabei gilt auch hier der Grundsatz: Use it or loose it, denn ein Abbau findet vermehrt statt, wenn Aktivierungen weniger werden. Ähnliches gilt auch für die Bildung neuer Neurone. Denn mittlerweile gilt es als erwiesen, dass das menschliche Gehirn, ähnlich wie bei anderen Säugern, im Gyrus dentatus des Hippocampus, einer Struktur, die bei der Gedächtnisbildung und anderen kognitiven Funktionen eine zentrale Rolle spielt, seine Fähigkeit behält, Neurone während des ganzen Lebens zu erzeugen.

Die neuen Nervenzellen tragen mutmaßlich dazu bei, dass sich der Hippocampus lebenslang an die Herausforderungen einer sich ständig ändernden Umwelt anpassen kann. Andere Forschungsergebnisse geben Anlass zur Vermutung, dass eine gestörte adulte Neurogenese im Hippocampus zur Entstehung von psychiatrischen Erkrankungen wie Depression, beitragen könnte.

Derzeit wird intensiv nach Substanzen gesucht, die eine Neubildung von Nervenzellen stimulieren und somit den Untergang von Neuronen ausgleichen könnten. Auch Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen könnten in Zukunft von diesen Ergebnissen profitieren.

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