Im Interview mit science.ORF.at spricht die österreichische Wissenschaftlerin über die notwendige Aktivierung des Immunsystems, wie es die Tumorzellen erkennen und abtöten soll.
science.ORF.at: Wie viel ist heute über den Zusammenhang von Infektionen und Krebserkrankungen bekannt?

ORF/Milenko Badzic
Die Medizinerin und Molekularbiologin Angelika Riemer beschäftigt sich am Deutschen Krebsforschungsinstitut in Heidelberg mit Immuntherapie und Krebsprävention.
Angelika Riemer: Man geht heute davon aus, dass fast ein Viertel aller Krebserkrankungen von Infektionen ausgelöst werden. Wahrscheinlich ist der Prozentsatz sogar noch höher. Das ist in der Forschung wirklich eine Pendelbewegung in die entgegengesetzte Richtung: Nachdem man in den 1970er Jahren noch davon ausgegangen ist, dass allein die Gene Ursache für Krebserkrankungen sind, wird heute vermutet, dass viele Krebsarten infektionsbedingt sind.
Von welchen Krebsarten weiß man, dass sie durch Infektionen ausgelöst werden?
Beispielsweise das Hepatitis-Virus bei Leberkrebs, alle möglichen Viren, die Blutkrebs oder Lymphome auslösen, und das HPV, das humane Papillomvirus, das zu Gebärmutterhalskrebs führt. Das HPV verursacht aber auch Anal-und Peniskrebs und eine bestimmte Karzinomart im Rachenraum.
Für welche dieser krebsverursachenden Virusinfektionen gibt es heute Impfstoffe?
Der erste krebsverhindernde Impfstoff war der gegen Hepatitis B. Der ist aber nicht entwickelt worden, um Krebs zu verhindern, sondern die Hepatitis. Man hat schließlich erkannt, dass als Nebeneffekt das Leberzellkarzinom verhindert wird. Zu diesem Zusammenhang gibt es beispielsweise breit angelegte Studien aus Taiwan. Dort wurde in den 1970er Jahren die Hepatitis-B-Impfung flächendeckend eingeführt. Es konnte inzwischen gezeigt werden, dass die Leberkrebsinzidenz um 70 Prozent gesunken ist.
Der erste Impfstoff, der tatsächlich entwickelt wurde, um Krebs zu verhindern, ist der gegen das humane Papillomvirus (HPV), genauer gegen die zwei Virusstämme HPV 16 und HPV 18. Diese beiden lösen ungefähr 70 Prozent aller Fälle von Gebärmutterhalskrebs aus. Bei den anderen Krebsarten, die auch von HPV ausgelöst werden, ist HPV 16 in 95 Prozent der Fälle der Auslöser. Also mit einer Impfung gegen diese beiden Stämme deckt man doch sehr viel ab.
Technologiegespräche in Alpbach:
Von 23. bis 25. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Globale Zukunft – Erwartungen an Wissenschaft und Technologie". Dazu diskutieren Minister, Nobelpreisträger, internationale Experten und Expertinnen u.a.
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Ö1 Hinweise:
Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2012 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.
Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.
Was passiert mit den Zellen, wenn sie mit dem Virus zusammen treffen?
Das ist nicht bis ins letzte Detail geklärt. Aber man weiß, dass das HPV, wie jedes Virus, die zelluläre Maschinerie braucht, um sich zu replizieren.
In einer Haut oder Schleimhaut teilt sich normalerweise nur die unterste Zellschicht, die sogenannten Basalzellen. Alles andere wird dann passiv hinaufgeschoben und bildet die Schutzfunktion der Haut oder Schleimhaut. Das Virus braucht aber mehr Zellen, die sich teilen, und sorgt deswegen für eine Teilung in höheren Zellschichten, um sich ausbreiten zu können.
Führt diese erhöhte Zellteilung zwangsläufig zu Krebs?
Nicht unbedingt. Die simpelste Form einer HPV-Infektion ist eine Warze. Da sieht man dieses "überschüssige" Gewebe, das durch die vermehrte Zellteilung entsteht. Deswegen erhebt sich eine Warze. Aber Warzen verschwinden üblicherweise nach einer gewissen Zeit, weil das Immunsystem das Virus bekämpfen kann.
Bei den Stämmen HPV 16 und HPV 18 kann es aber passieren, dass sich die virale DNA in das menschliche Genom einnistet. Die Zellen teilen sich laufend weiter und es kommt zu Krebs.
Die HPV-Impfung schützt vor der Infektion. Wie genau wirkt sie?
Sie ist eine reine Schutzimpfung. Deswegen sollten sie vor allem Kinder bekommen, bevor sie das erste Mal sexuellen Kontakt haben, weil die HPV-Viren sexuell übertragen werden. Wie jede Schutzimpfung werden die Antikörper aktiviert, und wenn das Virus in den Körper kommt, wird es von den Antikörpern abgebunden. Das Virus wird von Antikörpern bedeckt und kann nicht mehr an die Zielzelle andocken. Ist der Virus bereits in die Zelle eingedrungen, dann können die Antikörper nichts mehr ausrichten.
Deswegen arbeiten Sie am Deutschen Krebsforschungszentrum an einer therapeutischen Impfung, die auch bei bereits infizierten Zellen wirksam werden kann. Inwieweit können Sie auf den Erkenntnissen über die HPV-Schutzimpfung aufbauen?
Wir wissen, dass Antikörper nur vor Neuinfektionen schützen. Um eine Therapie möglich zu machen, braucht man Abwehrzellen, insbesondere T-Zellen, die virusbefallene Zellen abtöten. Damit diese T-Zellen "scharf" gemacht werden können, müssen sie das Virus an der Oberfläche der infizierten Zelle erkennen. Dieses Erkennungsmerkmal sind die sogenannten Epitope. Erst dann tötet die T-Zelle die infizierte Zelle ab.
Wie weit ist Ihre Forschung vorangeschritten?
Wir arbeiten derzeit daran, die verschiedenen Epitope, die auf der Oberfläche der infizierten Zellen sitzen, zu identifizieren. Weil genau gegen diese Epitope geimpft werden muss. Eigentlich sind solche Zellmerkmale bei Menschen sehr unterschiedlich. Aber das Virus versucht zu steuern, welche dieser Marker an die Oberfläche der infizierten Zelle wandern. Es gibt also nicht unendlich viele verschiedene Epitope auf den infizierten Zellen. Wenn wir die sieben häufigsten Epitope identifizieren könnten, dann würde die Therapie bei über 95 Prozent der Weltbevölkerung greifen.
Wann im Krankheitsverlauf sollte diese therapeutische Impfung erfolgen?
Idealerweise nicht erst, wenn der Krebs bereits vorhanden ist, sondern schon in einer Vorstufe. Diese Vorstadien dauern teilweise sehr lange an, bis zu zwanzig Jahre. Es gibt genug Zeit, um zu impfen und das Immunsystem zu aktivieren.
Man geht davon aus, dass jeder sexuell aktive Mensch eine HPV-Infektion bekommt. 99 Prozent werden diese Infektion alleine mit ihren T-Zellen wieder los. Also ein schlechter Abstrich beim Gynäkologen bedeutet nicht, dass sofort operiert werden muss, um die Zellveränderungen wegzuschneiden. Aber ein Prozent der Betroffenen hat mit dieser lang andauernden Infektion zu kämpfen, aus der sich dann im Lauf der Zeit Krebs entwickeln kann. Für diese Personengruppe wollen wir den Impfstoff entwickeln.
Haben Sie bereits mit Impfversuchen begonnen?
Wir haben ein Projekt gestartet, das untersucht, welche Art der Impfung am effizientesten ist. Bei einer Schutzimpfung werden ja die Antikörper angeregt, wir müssen aber die T-Zellen stimulieren. Jetzt versuchen wir an Mäusen herauszufinden, ob das über die Haut oder intramuskulär besser funktioniert.
Wann erwarten Sie, dass der therapeutische Impfstoff am Menschen zum Einsatz kommen wird?
Die Standardantwort wäre: mindestens noch weitere zehn Jahre. Ich hoffe, dass es schneller geht. Ein Epitop haben wir bereits klar identifiziert, mit dem jetzt auch die Impfstudien anfangen. Während wir die unterschiedlichen Impfwege vergleichen, arbeiten wir daran, weitere Zellmerkmale zu identifizieren. Wann wir die ersten Impfversuche am Menschen machen werden, kann ich jedoch noch nicht sagen.
Wird dieser therapeutische Ansatz, das Immunsystem zu stärken, insgesamt wichtiger in der Krebstherapie?
Noch vor zehn Jahren hat man die Tumorimmunologen oder Immuntherapeuten als Träumer abgetan. Inzwischen gibt es zwei Medikamente, die große Erfolge gehabt haben: ein Impfstoff gegen Prostatakrebs, bei dem auch das Immunsystem aktiviert wird. Das zweite ist der Antikörper Ipilimumab, der von allen T-Zellen im Körper die Bremse löst und beim bösartigen Melanom eingesetzt wird.
Das sind zwei Beispiele, bei denen immuntherapeutische Ansätze großen Erfolg haben, und das hat das Interesse an diesem Forschungsfeld stark gesteigert.
Das übergeordnete Thema der Technologiegespräche Alpbach ist in diesem Jahr "Globale Zukunft: Erwartungen an Wissenschaft und Technologie". Was können wir uns in Zukunft von Krebsforschung und -therapie erwarten?
Eine klare Tendenz ist, dass wir die Biologie heute viel besser verstehen. Es gibt ja nicht "den Krebs". Selbst beim Brustkrebs handelt es sich um mindestens zehn verschiedene Arten. Man wird immer besser wissen, von jedem spezifischen Tumor in jedem einzelnen Patienten, welcher Signalweg falsch läuft und welche spezifische Therapie benötigt wird. Also ist der Tumor hormonbedingt, dann muss man die Hormone hemmen, oder ist das Karzinom infektionsbedingt, dann muss man das Immunsystem stärken.
Interview: Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft
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