Sennett ist davon überzeugt, dass die optimale Entfaltung eines menschlichen Lebens eine gesellschaftliche Ordnung voraussetzt, in der das Individuum eingebunden ist und Verantwortung übernimmt. Dieser Grundgedanke des Soziologen Richard Sennett findet sich in all seinen vielschichtigen Arbeiten. Die Idee, dass das Individuum sein Leben autonom gestalten kann - ohne gesellschaftliche Verortung und Bezug zu anderen Menschen - ist seiner Ansicht nach eine Illusion.

EPA, Ingo Wagner
Biografie:
Richard Sennett wurde am 1. Januar 1943 als Sohn einer allein erziehenden Sozialarbeiterin in Chicago geboren. Er studierte vorerst Musikwissenschaften und Violoncello, bevor er sich der Soziologie zuwandte. Seit 1973 lehrte Sennett Geschichte und Soziologie an der New York University, später Soziologie und Geschichte an der London School of Economics. Er erhielt zahlreiche renommierte Preise wie den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und den Gerda Henkel Preis. Sennett ist auch Berater der UNESCO im Bereich der Städteplanung.
Literaturhinweise zu Richard Sennett
- Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, übersetzt von Reinhard Kaiser, Berlin Verlag
- Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, übersetzt von Martin Richter, Berlin Verlag
- Handwerk, übersetzt von Michael Bischoff, Berlin Verlag
- Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, übersetzt von Reinhard Kaiser, Berlin Verlag
- Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, übersetzt von Michael Bischoff, Verlag Hanser Berlin
Für ihn ist der radikale Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung um jeden Preis das Hauptübel der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften. Den tiefgreifenden Egoismus, der sich nur für die Selbstverwirklichung der eigenen Person interessiert, macht Sennett für die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Problemen verantwortlich.
"Der flexible Mensch"
Bekannt wurde Sennett, der sich explizit als "Neuer Linker" versteht, durch sein Buch "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus". Es ist dies eine eingehende Kritik am Postkapitalismus, der mit seiner "New Economy" die Arbeitswelt grundsätzlich verändert hat. Die "New Economy" schuf neue Arbeitsbeziehungen: Der Arbeitnehmer, der meist seinen Beruf ein Leben lang in einem Unternehmen ausübte, war plötzlich mit der Forderung konfrontiert, möglichst "flexibel" zu sein.
Die wesentliche Neuerung bestand darin, dass das Modell der hierarchischen Strukturen durch netzwerkartige Strukturen ersetzt wurde. Viele Aufgaben wurden ausgelagert und von kleinen Firmen übernommen, die mit kurzfristigen Verträgen arbeiteten. Gefragt war nun der höchst motivierte Spezialist, der bereit war, sein Leben nach den Bedürfnissen der Firma auszurichten. Erwartet wurden soziale Mobilität und die Bereitschaft, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen, um den Ertrag der Firma immer weiter zu erhöhen. Für viele Arbeitende waren häufige Stellenwechsel und ungesicherte Arbeitsverhältnisse die Folge dieser Entwicklung. Der erfolgreiche Mensch sollte sich auf die rasch ändernden Vorgaben der Industrie einstellen; seine Lebenszeit unterlag dem Rhythmus der Produktion.
Kritik an der "New Economy"
Dabei ging die Fähigkeit verloren, auf Begrenzungen zu achten. Es entstanden "Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten", die einer existenziellen Unsicherheit ausgesetzt sind; ihr Leben gleicht einem "Navigieren auf Sicht", "einem Dahintreiben, einem Driften im Ungewissen". Dieser Prozess ist irreversibel, meint Sennett, keine Firma kann es sich heute leisten, nicht den Anforderungen der "New Economy" zu entsprechen.
Die Folgen dieser Entwicklung bedeuten für den einzelnen Arbeitnehmer eine fundamentale Umstellung. Vor den Umwälzungen der "New Economy" wurde von den meisten Firmen jahrzehntelang ein bewährtes Organisationsmodell benützt, in dem jeder Firmenangehöriger - vom Chef bis zum Hilfsarbeiter - eine bestimmte Funktion ausübte; bewährte er sich in dieser Funktion, konnte er damit rechnen, sein ganzes Leben in der Firma zu verbringen. Diese Beständigkeit wirkte sich auch auf die Biografie des Arbeitnehmers aus; sie vermittelte Kontinuität und Sicherheit, die dem "flexiblen Menschen" abhanden gekommen ist.
Stimmungsbild an der Wallstreet
Die Kritik an der "New Economy" findet sich auch in Sennett zuletzt publiziertem Buch "Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält". Darin zeichnet Sennett ein Stimmungsbild der New Yorker Banken an der Wall Street aus der Sicht von mittleren Angestellten des Finanzwesens. Sie arbeiteten dort als Computertechniker oder Buchhalter - gleichsam als solide Handwerker der globalen Finanzökonomie - bevor sie durch die Krise im Herbst 2008 arbeitslos wurden. Sie beklagten sich über einen allmählichen Realitätsverlust in den Führungsetagen.
Die Angestellten berichteten, dass die Spitzenmanager der Finanzwelt nicht wussten, was sie taten und es in einigen Fällen gar nicht wissen konnten, weil der Handel mit Kreditderivaten und anderen Produkten so undurchsichtig ist. Den mittleren Angestellten war bald klar, dass die führenden Manager die Übersicht verloren hatten und sie reagierten darauf mit einer eigenwilligen Strategie: Sie kauften alles auf, woran die Manager nicht interessiert waren und vermieden es, das zu kaufen, womit die Spitzenkräfte handelten.
Keine Schuldeinsicht der Manager
Nach dem Crash der Investmentbanken, der die größte Finanzkrise seit 80 Jahren auslöste, war die Schuldeinsicht der Führungskräfte gering. Die Angestellten erzählten Sennett, dass bei den hochgestellten Managern gleichsam marxistische Rhetorik vorherrschte. Sie sagten: "Das System hat versagt". Sie fanden viele Entschuldigungen, aber keiner war bereit, die Mitschuld auf sich zu nehmen.
Auf Fragen, wie man denn die Krise verhindern hätte können, kamen Antworten wie: "Man hätte etwas vorsichtiger sein müssen"; auf die Frage, was sie denn zur Lage von Pensionisten zu sagen, die nun ihre finanziellen Ansprüche weitgehend verloren haben, reagierten sie mit einem Achselzucken oder mit der Bemerkung: "Diese Entwicklung des Systems konnte ich nicht beeinflussen, was sollte ich denn tun?"
Vorbild Orchester
Nach der Kritik an den Repräsentanten des kapitalistischen Systems, die nur an ihren eigenen Nutzen denken, entwirft Sennett seine Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft, in der die Zusammenarbeit einen zentralen Stellenwert einnimmt. Um eine optimale Entfaltung eines menschlichen Lebens zu gewährleisten, ist es notwendig, meint der Soziologe, eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen, in der das Individuum eingebunden ist und Verantwortung übernimmt.
Das Grundgefühl der Solidarität und Sorge um die anderen ist auch autobiografisch bedingt. Sennett wandte sich als Kind der Musik zu, die für ihn neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ein zentrales Element seines Lebens bildete. So sah er im Mikrokosmos eines Orchesters, in dem der Einzelne seine Kreativität ausüben kann und sich gleichzeitig dem Ganzen einfügen muss, das vorbildliche Grundmodell einer gesellschaftlichen Ordnung.
Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft