Maßnahme mit Nebenwirkungen
Um das Bevölkerungswachstum einzudämmen und den wirtschaftlichen Aufstieg zu befördern, entschloss sich die chinesische Regierung 1979, die sogenannte Ein-Kind-Politik einzuführen. Bis auf wenige Ausnahmen dürfen Ehepaare seit damals nur mehr ein Kind haben. Besonders in den städtischen Gebieten war man mit der Strategie auch recht erfolgreich.
Die Studie in "Science":
"Little Emperors: Behvioral Impacts of China's One-Child-Policy" von Lisa Cameron et al., erschienen am 11. Jänner 2013.
Bei der Durchsetzung sind die Behörden bis heute nicht gerade zimperlich. Bei einem Verstoß gegen diese Regel werden hohe Geldstrafen verhängt, auch Zwangsabtreibungen sollen keine Seltenheit sein, obwohl diese gesetzlich verboten sind. Erst vergangenen Juni sorgte der Fall einer im siebten Monat schwangeren Frau für internationales Aufsehen. Sie war von Beamten zur Abtreibung gezwungen worden.
Auch abgesehen von grausamen Einzelschicksalen, gerät die Regelung zunehmend in Kritik. Offiziell gilt sie noch als Erfolg, denn China ist mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern heute zwar das bevölkerungsreichste Land der Welt. Ohne die Ein-Kind-Politik wären es aber um die 400 Millionen mehr, so die Befürworter. Dennoch sehen sich selbst diese heute mit unerwünschten Folgen konfrontiert. Unter anderem hat sich das Gleichgewicht der Geschlechter verschoben, selektive Abtreibungen führen zu einem stetig wachsenden Jungmännerüberschuss. Zudem wird die Gesellschaft immer älter, während die Menschen in erwerbsfähigem Alter immer weniger werden. Diese Entwicklungen haben vergangenen Herbst sogar ein regierungsnahes Forschungsinstitut dazu bewogen, die schrittweise Abschaffung der Regelung zu fordern. Schon in den vergangenen Jahren wurden die Ausnahmeregeln erweitert.
"Kleine Kaiser"
Die wirtschaftlichen und demographischen Folgen der Ein-Kind-Politik sind aber nur eine Seite des Problems. Seit Jahren macht sich die chinesische Bevölkerung nämlich darüber hinaus Sorgen, was die Maßnahme aus ihren Kindern macht. Der spärliche Nachwuchs gilt als selbstsüchtig und verwöhnt, "kleine Kaiser" mit fehlender Sozialkompetenz, die von ihren Eltern verhätschelt werden - so sieht man die künstlich erzwungene Generation von Einzelkindern.
Empirisch untersucht wurde diese Zuschreibung bis jetzt aber kaum. Dabei bietet das riesige Sozialexperiment eine einmalige Chance, soziale Veränderungen zu untersuchen, wie die Forscher um Lisa Cameron von der australischen Monash University in ihrer soeben erschienenen Studie schreiben. Keine andere Regelung habe eine Gesellschaft binnen kurzer Zeit so nachhaltig verändert.
Für die Untersuchung haben die Wissenschaftler insgesamt 421 Personen, die kurz vor (1975, 1978) bzw. kurz nach (1980, 1983) der Einführung der Ein-Kind-Regel geboren wurden, aus Peking rekrutiert. In der Generation von 1975 sind dabei nur 27 Prozent Einzelkinder, bei der von 1983 bereits 91 Prozent.
Misstrauisch und feig
Zur Erhebung der persönlichen Eigenschaften wurden klassische Experimente aus der experimentellen Ökologie durchgeführt. Mittels Diktatorspiel, einer Variante des Ultimatumspiels wurde der Altruismus der Teilnehmer erfasst, mit einer anderen Variante ihr Vertrauen. Zwei weitere Spiele testeten die Risikofreudigkeit und die Bereitschaft zum Wettkampf. In einer anschließenden Befragung wurden weitere Einstellungen und Eigenschaften erhoben. Die Frage "Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird morgen die Sonne scheinen?" sollte bspw. zeigen, wie optimistisch die Studienteilnehmer sind. Weitere Fragen betrafen ihre Offenheit, das Pflichtbewusstsein, die Verträglichkeit, die Extravertiertheit und den Neurotizismus.
Nachdem Faktoren wie etwa Alter, Geschlecht und Bildung aus dem Vergleich rausgerechnet wurden, blieben laut den Forschern deutliche Unterschiede zwischen den Generationen von vor und nach Einführung der Ein-Kind-Politik über. Wie die Spiele zeigten, waren die Kinder aus der Ein-Kind-Generation durchwegs weniger altruistisch und vertrauensvoll, z.B. gaben sie ihren Partner im Vertrauensspiel durchschnittlich um 16 Prozent weniger Geld als ihre Mitspieler. Aber auch ihre Bereitschaft für Risiko oder Wettbewerb war deutlich geringer. Die Fragebogenauswertung ergab zudem, dass sie weniger optimistisch und gewissenhaft sowie gleichzeitig nervöser als ihre vor der Ein-Kind-Wende geborenen Mitbürger sind.
Zwang drückt aufs Gemüt
Wie statistische Berechnungen ergaben, geht es nicht um den Einzelkind-Status per se. Immerhin waren auch unter den Teilnehmern von 1975 und 78 solche in der Stichprobe, genauso wie Geschwisterkinder bei den jüngeren beteiligten Personen. Außerdem wisse man auch aus internationalen Studien, dass das Einzelkinderdasein durchaus Vorteile haben kann. Kinder ohne Geschwister entwickeln oft ein besonderes Gefühl der Sicherheit und des Grundvertrauens.
Offenbar macht es aber einen Unterschied, ob es sich um eine freiwillige Entscheidung handelt oder - wie im Fall von China - um einen kollektiven Zwang. Wie es aussieht, drückt dieser auf das Gemüt aller Nachgeborenen. Die Forscher vermuten, dass der Effekt bei noch jüngeren Menschen noch deutlicher ausfallen würde. Das soziale Kapital wird demnach weiter schrumpfen.
Auch aus wirtschaftlicher und politischer Sicht sollte dies Anlass zum Nachdenken liefern, wie die Forscher schreiben. Verunsicherung, Mutlosigkeit und Misstrauen sei selten eine gute Basis für Erfolg. So gesehen wäre es höchste Zeit, die umstrittene Regelung tatsächlich aufzuheben.
Eva Obermüller, science.ORF.at