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Ein junges Paar läuft mit ihrem Kind über eine grüne Wiese.

Gegen die Mythen der Demografie

Ist die Kinderlosigkeit heute tatsächlich so hoch wie nie zuvor? Sind niedrige Geburtenraten wirklich eine Folge der Berufstätigkeit der Frauen? Nein, antwortet eine aktuelle Studie, die diese und andere vermeintliche Gewissheiten der Bevölkerungswissenschaft als Mythen entlarvt.

Bevölkerung 14.01.2013

Am Montag wurde die Arbeit "Zukunft mit Kindern", die Fruchtbarkeit und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht hat, in der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien präsentiert. Gleichzeitig werden in der Studie Empfehlungen gegeben, was getan werden müsste, damit alle, die ein Kind möchten, auch tatsächlich eines bekommen können.

Periodenfertilität vs. Kohortenfertilität

Die Studie:

Die Studie ist in Buchform erschienen: "Zukunft mit Kindern – Fertilität und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland, Österreich und der Schweiz“, Herausgeber u.a.: Günter Stock, Hans Bertram, Alexia Fürnkranz-Prskawetz; Campus Verlag; 473 Seiten; 30,80 Euro

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Tatsächlich gibt es in den deutschsprachigen Ländern eine vergleichsweise niedrige Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau. Mit diesem Wert werde die Geburtenhäufigkeit innerhalb eines Jahres gemessen ("Periodenfertilität"), was bequem, aber nur eine Momentaufnahme darstelle.

Messe man dagegen die aussagekräftigere "Kohortenfertilität", bei der die Kinderzahl aller etwa 1965 geborenen Frauen bis zum Ende ihrer Fruchtbarkeit erhoben wird, liege die durchschnittliche Kinderzahl bei 1,6 - "ein deutlicher Unterschied, der in der Diskussion der Vergangenheit nicht ausreichend berücksichtigt wurde", sagte Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, unter deren Federführung die Studie ausgearbeitet wurde.

Keine Frage der Erwerbstätigkeit

Die niedrigen Geburtenraten seien allerdings nur teilweise, vor allem in Deutschland, auf Kinderlosigkeit von Paaren zurückzuführen. In Österreich sei der Grund vor allem im Rückgang von Mehrkindfamilien zu suchen, sagte Mitautorin Alexia Fürnkranz-Prskawetz vom ÖAW-Institut für Demografie.

Mythos sei auch das pauschale Argument, die niedrige Fertilität sei durch die erhöhte Erwerbstätigkeit von Frauen begründet. In Skandinavien oder Frankreich gebe es die höchste Erwerbstätigkeit von Frauen, aber auch die höchsten Geburtenraten.

Die Kinderlosigkeit sei auch nicht höher als jemals zuvor: Zwar sei jede fünfte Frau, die um 1965 geboren wurde, kinderlos geblieben - zu Beginn des Jahrhunderts hätten aber sogar 25 Prozent keine Kinder bekommen.

Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau

Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau 1961 bis 2011; Durchschnittliches Alter bei Geburt des ersten Kindes

Quelle - APA, Statistik Austria Grafik: APA

Durchschnittliches Alter bei Geburt des ersten Kindes 1961 bis 2011

Frauen bei Erstgeburt älter als früher

Ö1 Sendungshinweis:

Über diese Studie berichtete auch "Wissen Aktuell" am 14. Jänner 2013 um 13.55 Uhr.

Auch medizinisch würden sich verschiedene Mythen hartnäckig halten, etwa dass durch die gestiegene Lebenserwartung Frauen länger Kinder bekommen könnten. Die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, sinke weiterhin mit zunehmendem Alter, "das durchschnittliche Alter für die Menopause liegt konstant bei 51 Jahren", sagte Mitautor Wolfgang Holzgreve, ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Bonn.

Das öffentliche Bewusstsein sei aber oft durch spektakuläre Einzelfälle beeinflusst. Es gebe auch keinen wissenschaftlichen Hinweis dafür, dass sich die Spermienqualität, etwa durch Umweltbedingungen, wie man oft höre, verschlechtert habe, so Holzgreve. Es stimmt allerdings, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren das durchschnittliche Alter einer Frau beim ersten Kind bei rund 25 Jahren, jetzt bei etwa 30 Jahren liege. 1981 sei nur bei jeder 16. Geburt die Mutter über 35 Jahre alt gewesen, derzeit bereits bei jeder vierten Geburt.

Große Unterschiede bei Migrantinnen

Die Studie zeigt auch, dass das Ausmaß der Kinderlosigkeit hochgebildeter Frauen in der Vergangenheit aufgrund fehlender Daten als zu hoch eingeschätzt wurde (in Deutschland 28 Prozent der um 1965 geborenen Akademikerinnen).

Die Pauschalaussage, Immigrantinnen hätten höhere Fertilität als einheimische Frauen, stimme nicht, es gebe eine große Variation der Geburtenrate. In Österreich liegt die zusammengefasste Geburtenziffer für alle Immigrantinnengruppen bei 1,9 mit einem schwachen Rückgang über die Zeit.

Nach wie vor Wunsch nach zwei Kindern

Man wolle mit der Studie und ihren Empfehlungen "nicht die Fertilität erhöhen", betonte Fürnkranz-Prskawetz, es gehe vielmehr darum zu verstehen, warum die Fertilität im deutschsprachigen Raum auf so niedrigem Niveau sei. Denn der Kinderwunsch sei durchaus gegeben und liege im Schnitt bei rund zwei Kindern - wenngleich diese Daten nur auf Umfragen beruhen und man wisse, dass sich dieser Wunsch im Laufe der Zeit verändere, wies die Demografin auf weiteren Forschungsbedarf in dieser Frage hin.

Die Wissenschaftler haben sich in ihren Empfehlungen vor allem auf die Frage konzentriert, "wie Menschen ihre Lebensentwürfe realisieren können und was ihnen dabei im Wege steht", so Günter Stock. Es werde zunehmend Wert auf freiheitliche Gestaltung des Lebens gelegt, der Kinderwunsch sei ein Teil davon, so Stock, der davon ausgeht, dass in den vergangenen Jahren hier einiges "vermasselt wurde".

Es brauche Anpassungen an veränderte Lebensverläufe, der Arbeitsprozess müsse ein "Wohlbefinden von Kind und Eltern ermöglichen", so Fürnkranz-Prskawetz. "In der Vergangenheit haben wir vielleicht zu wenig auf das Elternwohl geachtet", sagte Stock.

Empfehlung: Anspruch auf "Familienzeit"

Aus diesem Grund empfehlen die Wissenschaftler in der Studie einen rechtlichen Anspruch auf "Familienzeit" über die gesamte Erwerbstätigkeit bei insgesamt längerer Lebensarbeitszeit. Der derzeitige stark auf die ersten Lebensjahre des Kindes fokussierte Karenzanspruch soll durch "flexible Zeitmodelle" abgelöst werden, so Fürnkranz-Prskawetz.

Nicht nur bei der Geburt eines Kindes, sondern auch etwa bei Schul- und Wohnungswechsel, längerer Krankheit des Kindes oder eines Elternteils solle genug Zeit für Fürsorge bleiben - die "gegenwärtige Konzentration der Lebensarbeitszeit auf die mittleren Jahre durch eine flexible Entzerrung abgelöst werden, die auch eine Verlängerung nach hinten beinhaltet", heißt es in den Empfehlungen.

Teilzeitmodelle und Kindergrundsicherung

Möglich sein sollen sowohl temporärer Berufsausstieg als auch Teilzeitmodelle, und zwar für beide Elternteile und "über die unmittelbare Kernfamilie hinaus". Für die Forscher wäre dies ein Weg zu größerer sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, "denn Chancengleichheit am Arbeitsmarkt hängt eng mit gleichen Zeitchancen zusammen - mit vergleichbaren Möglichkeiten, sich um Familienmitglieder zu kümmern".

Weiters wird unter anderem die Schaffung einer "Kindergrundsicherung" vorgeschlagen, die sämtliche kindbezogenen Transferleistungen in einer einzigen existenzsichernden und zu besteuernden Leistung für alle Kinder bündelt. Vorteil wäre unter anderem die Verhinderung einer Stigmatisierung von Familien durch Bedürftigkeitsprüfungen - grundsätzlich sollen alle Familien (und alle Familienformen) davon profitieren, eine entsprechende Umverteilung erfolge über die Besteuerung.

science.ORF.at/APA

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