Besonders betroffene Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal haben sich mehr mit Punkten "unterstützt" als zuvor. Allgemein haben sich Ab- und Zuneigung zwischen Staaten in den Krisenjahren verstärkt, berichten die Systemforscher David García und Dorian Tanase in einer Studie.
Die Studie:
"Measuring Cultural Dynamics Through the Eurovision Song Contest" von David García und Dorian Tanase ist am 14.1. auf dem Preprint-Server arXiv.org erschienen.
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Beispiel Google
García und Tanase gehören nicht zu jener Sorte Menschen, die den Song Contest ausschließlich als Belustigung betrachten. Hinter den bizarren Liedern und bunten Kostümen verstecken sich ihnen zufolge handfeste Sozialbeziehungen, die man mit Hilfe der Statistik erforschen kann.
Die Suchmaschine Google hat das in der Vergangenheit bereits für zutreffende Prognosen genutzt. Das entsprechende Prediction Tool, das auf Suchanfragen basierte, sagte 2009 (Alexander Rybak, Norwegen) und 2010 (Lena, Deutschland) die Sieger richtig voraus. 2011 hatte das Werkzeug aber ordentlich daneben gelangt und den Triumph des Duos Ell/Nikki aus Aserbeidschan nicht vorhergesehen.
Möglicherweise, so schreiben die Forscher in ihrer aktuellen Studie, hat das Wissen um die Vorhersagefähigkeit von Google genau diese beendet. Die Internet-User haben 2011 offensichtlich versucht, durch gezielte Suchanfragen ihre Favoriten zu "pushen". Danach hat Google dieses Werkzeug eingestellt.
Freund oder Feind
Ähnliches ist nicht von der Arbeit von García und Tanase zu erwarten. Sie liefern keine Prognosen, sondern Netzwerkanalysen. Dazu haben sie einen Freund-oder-Feind-Faktor entwickelt, der zeigt, welche Nationen sich mögen und welche nicht; konkret: welche Nationen jene Menschen bevorzugen, die die kostenpflichtigen Telefon- oder SMS-Nummern für die Wahl ihres Lieblingslieds nutzen. Seit 1998 stimmen nicht mehr Jurys über die Lieder ab, sondern zumindest teilweise auch die Zuseher der TV-Show.
Dabei zeigen sich die bekannten Freundschafts-Cluster wie etwa zwischen den Ländern Skandinaviens und des Balkans sowie zwischen Griechenland und Zypern und Rumänien und Moldawien. Ebenso zeigen sich Beziehungen der Abneigung: Der politische Konflikt zwischen der Türkei und Zypern spiegelt sich ebenso in den Votings des Schlagerwettbewerbs wie jener zwischen Armenien und Aserbeidschan.
Einen speziellen Fall haben die Statistiker zwischen Deutschland und Griechenland ausgemacht: Während erstere den zweiteren gerne Punkte zuweisen, ist das umgekehrt nur äußerst selten der Fall.
Stärkere Polarisierung
Dieses besondere deutsch-griechische Verhältnis besteht schon länger als die aktuelle Eurokrise, betonen die Forscher. Neben langlebigen, offenbar durch kulturelle Gepflogenheiten entstandenen Trends, haben sie auch kurzfristige entdeckt: So hat sich in den Jahren der Banken- und Finanzkrise eine Art "emotionale Schuldengemeinschaft" gebildet.
Gerade so als ob sie sich gegenseitig trösten wollten, haben einander Griechenland, Spanien, Portugal und Italien 2010 sowie 2011 mehr Punkte zugeteilt als üblicherweise. Mit Ausnahme Irlands, einem weiteren Staat mit großen Schuldenproblemen, haben sich in den Jahren schon vorher bestehende Tendenzen im Abstimmungsverhalten verstärkt. Ähnliches gilt auch für die Staaten, die von der Finanzkrise (noch) weniger betroffen sind wie Deutschland, die Niederlande oder Finnland.
Einschränkungen der Song-Contest-Wissenschaft
Ihre Studie, so betonen die Forscher, unterliege einigen Einschränkungen. So können etwa Phänomene wie die türkische Diaspora in Europa nicht durch die Daten untersucht werden. Auch hätten sich die Resultate ihrer Studie für das Jahr 2012 nicht bestätigt. "Um das Verhältnis von Krise und den Polarisierungen bei der Abstimmung besser einschätzen zu können, brauchen wir mehr Daten", sagte García dem Onlinedienst von "Nature".
Eine naheliegende Quelle: die Analyse von Twitter während des Contests. Mit ihr wäre die noch junge Disziplin der Eurovisiopsephologie - also der wissenschaftlichen Erforschung des Wahlverhaltens beim Eurovision Song Contest - um ein Kapitel reicher.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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