Standort: science.ORF.at / Meldung: "Wie aus Michelangelo ein "Germane" wurde"

Ausschnitt aus dem Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo

Wie aus Michelangelo ein "Germane" wurde

Die Nationalsozialisten haben Rassen anhand von Gesichts- und Körperformen in Herren- und Untermenschen eingeteilt. Dazu griffen sie auf vorhandene Wissenschaftstraditionen zurück. Wenig bekannt ist, wie sich die Geisteswissenschaften dazu verhielten. Ein neues Buch möchte diese Lücke schließen.

Kunstgeschichte 05.03.2013

Das Thema der Kunsthistorikerin Daniela Bohde ist das Verhältnis zwischen der Kunstgeschichte und der Physiognomik, der alten "Wissenschaft" des Gesichterdeutens. Aus der Physiognomik kommt die Vorstellung, ein künstlerischer Stil sei der Ausdruck des Charakters des Künstlers, oder gar gleich einer ganzen Epoche oder Nation. Diese Art zu deuten wurde Anfang des vergangenen Jahrhunderts auch auf den gesamten Körper und sogar auf Gebäude, Städte oder Landschaften bezogen.

Buchhinweis:

Die Habilitationsschrift von Daniela Bohde mit den Titel "Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft. Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre" ist im Akademie Verlag erschienen (ISBN 978-3-05-005558-9).

Die Verbindung von Kunstgeschichte und esoterischer Deutungskunst wurde in der Zeit des Nationalsozialismus besonders brisant. Denn hier entwickelte sich die Rassenphysiognomik, die die Rassen und ihren angeblich unterschiedlichen Wert aus den Gesichtszügen bestimmen wollte. Eine sogenannte nordische Rasse galt als hochwertig, andere wie die "ostische" oder "jüdische" als minderwertig.

Michelangelo typisch "nordisch"

Für diese Konstruktion von Rassen bezogen sich NS-Wissenschaftler gerne auf Beispiele aus der Kunst- oder Stilgeschichte. Die Skulpturen der antiken Griechen oder auch von Michelangelo wurden dabei als typisch "nordisch" eingemeindet. Schwierigkeiten hatte man hingegen mit dem "nordischen" Komponisten Bach, weil er so "ostisch" aussah.

Auch prominente Kunsthistoriker benutzten diese Rassenkonstrukte und machten sie zur Basis ihrer Forschung. Die Kunst in Osteuropa wurde so kurzerhand zu einer eigentlich "nordischen" umdeklariert. Damit bot Kunstgeschichte eine Handreiche, die Ausplünderung der osteuropäischen Länder zu legitimieren.

Die Untersuchung Bohdes wirft ein neues Licht auf ihr Fach. Bisher wurde davon ausgegangen, dass die "Ahnherren" der Kunstgeschichte Künstler, Kunsttheoretiker, Philosophen und so weiter gewesen seien und nicht die Vertreter einer so obskuren Disziplin wie der Physiognomik.

Auch "Linke" waren fasziniert

Verblüffenderweise interessierten sich nicht nur Rasseforscher und nationalistische Kunsthistoriker für die Physiognomik. Auch Linksintellektuelle wie Walter Benjamin oder Fotografen und Maler wie August Sander, Wassily Kandinsky oder George Grosz waren davon fasziniert, das "Gesicht" ihrer Zeit an der Gestalt der Menschen, der Mode oder der entstehenden Metropolen zu erkennen. Gerade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte man nämlich grundsätzlich Schwierigkeiten, die sich schnell verändernde Umwelt zu verstehen und suchte Zuflucht bei der Physiognomik.

Die Ambivalenzen machen Bohdes Buch spannend. Die Habilitationsschrift dürfte auch außerhalb der Kunstgeschichte Interesse wecken. Denn etliche geisteswissenschaftliche Fächer haben auch 80 Jahre nach der Machtübernahme Hitlers noch Aufklärungsbedarf über ihre nationalsozialistische Vergangenheit.

Ruppert Mayr, dpa /science.ORF.at

Mehr zum Thema: