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Ein Flecken Blut, rundherum Spritzer

Warum sich Künstler selbst verletzen

Muss sich der Mensch der Macht der Natur unterworfen denken? Wie steht es um seine Freiheit und Souveränität? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen zeigen sich Parallelen zwischen den Philosophen des 18. Jahrhunderts und sich selbst verletzenden Künstlern und Künstlerinnen der Gegenwart.

ÖAW Young Science 31.03.2013

Die Bewältigung von Krisen, verletzende Gesellschaftsstrukturen und prekäre Individuen: In einem Gastbeitrag erklärt die Theaterwissenschaftlerin Rosemarie Brucher künstlerische Selbstverletzung - und sieht Ähnlichkeiten zwischen der Ästhetik des Erhabenen von Immanuel Kant und den zentralen Anliegen zeitgenössischer Performance Art.

Porträt Rosemarie Brucher

Brucher

Über die Autorin:
Dr. Rosemarie Brucher, geb. 1980 in Graz. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Komparatistik an den Universitäten Wien und Leipzig. Abschluss 2012 mit einer Dissertation zum Thema Künstlerische Selbstverletzung und Kants Ästhetik des Erhabenen. Von 2009-2012 Doc-Stipendiatin der österreichischen Akademie der Wissenschaften, zugleich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik Wien. Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Theaterwissenschaft und Gender der UDK Berlin. Die Doktorarbeit wurde 2012 mit dem Doc-Award der Universität Wien sowie einem Forschungspreis der Dr. Maria Schaumayer-Stiftung ausgezeichnet.

Das Erhabene und die Body Art

Von Rosemarie Brucher

Wien 1973: In ihrem Atelier führt die Künstlerin VALIE EXPORT vor Publikum die Selbstverletzungs-Performance Hyperbulie durch. Sie betritt nackt einen etwa vier Meter langen Korridor aus Drähten, die mit einer Autobatterie unter Strom gesetzt sind. Steht EXPORT anfangs noch aufrecht, so geht sie im Laufe der Vorwärtsbewegung sukzessive zu Boden, wobei sie sich zunächst gebückt, schließlich jedoch auf allen Vieren fortbewegt. Den gesamten Zeitraum über stößt die Künstlerin vornehmlich mit Wange und Schulter an die in drei verschiedenen Höhen gespannten Drähte und fügt sich dadurch zahlreiche Stromschläge zu.

Scheinen Aktionen wie diese in ihrer verstörenden Eindringlichkeit auch die alleinige "Hervorbringung" des 20. Jahrhunderts, so wird im Folgenden aufgezeigt, dass wesentliche Aspekte selbstverletzender Kunst in direkter Analogie zu einer Ästhetik des Erhabenen stehen, wie sie von Immanuel Kant entwickelt wurde - ja, dass darüber hinaus die Frage nach einer gegenwärtigen Realisation des Erhabenen gerade in Aktionen wie Hyperbulie eine Antwort findet.

Die zentrale Gemeinsamkeit dieser scheinbar divergenten Felder liegt in dem Versuch, Freiheit und Selbstbestimmung in Momenten der Krise zu erhalten, d.h. den Menschen in seinem Selbstanspruch als autonomes Wesen zu verteidigen. Welche Strategien hierzu gewählt werden und welche Dynamiken, Ziele und Grenzen diesen eingeschrieben sind, soll im Anschluss verdeutlicht werden.

Künstlerische Selbstverletzung

Literaturhinweise:

  • Brucher, Rosemarie: Subjektermächtigung und Naturunterwerfung. Künstlerische Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen. Bielefeld: transcript, 2013.
  • Dies.: Zum paradoxen Freiheitsentwurf bei Schiller, Foucault und in der selbst verletzenden Body Art. In: Das Mögliche regieren. Gesellschaftsutopien zwischen Möglichkeitssinn und Machtphantasmen. Literatur – Medien – Wissenschaft. Hg. v. Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser. Bielefeld: transcript, 2011 (Kultur- und Medientheorie), S. 151-167.
  • Kant, Immanuel: Kritik der Urtheilskraft. Gesammelte Schriften Bd. V. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: de Gruyter, 1913.

Künstlerische Selbstverletzung etabliert sich in den 1960er Jahren als performative Ausdrucksform, erlebt in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt und setzt sich als Grenzbereich der Performance Art bis in die Gegenwart fort. Die als künstlerische Handlungen verstandenen Verletzungen werden dabei mithilfe von Rasierklingen, aber auch Glasscherben, Messern, Nadeln u. Ä. vorgenommen.

KünstlerInnen wie Marina Abramović, Chris Burden, Günter Brus, Elke Krystufek und andere fügen sich Schnitt-, Brand- und Schussverletzungen zu, fasten oder wiederholen Bewegungen bis zur Erschöpfung. Neben dieser direkten Form des Verletzens kommt es seit den 1990er Jahren bei KünstlerInnen wie Orlan oder Stelarc zum Einbezug plastischer Chirurgie, was einen Wandel vom selbstverletzenden Akt hin zur Körpermodifikation zur Folge hat.

Doch wie können diese Verletzungsakte der Selbstversicherung des Individuums in Momenten der Krise dienen? Indem KünstlerInnen gerade die Begrenztheit des Körpers nutzen, um hierüber zu demonstrieren, dass der menschliche Wille auch unabhängig vom Selbsterhaltungstrieb gedacht werden kann - eine Dynamik, wie sie grundlegend für Kants Konzeption des Erhabenen ist.

Die Ästhetik des Erhabenen

ÖAW Young Science:

Der Text ist Teil des Projektes Young Science, im Zuge dessen Gastbeiträge von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erscheinen. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen Ö1/science.ORF.at und der Akademie der Wissenschaften.

Für ein umfassendes Verständnis selbstverletzender Kunst ist Kants Konzept des Dynamisch-Erhabenen essenziell. Dieses beschreibt eine (imaginäre) existenzielle Gefährdung des Menschen durch die überwältigend erscheinende Natur - Vulkane, Orkane u. Ä. Das daraus hervorgehende Gefühl der Ohnmacht basiert auf dem unmittelbaren Bewusstsein sterblich zu sein.

Dem Erhabenen liegt also zunächst eine Krisenerfahrung zugrunde, in der die Macht des Menschen eine fundamentale Hinterfragung erfährt. Doch nicht im Entsetzen zeigt sich das Erhabene, sondern in der Art und Weise, wie auf diese Krise reagiert wird, worin auch die zentrale Parallele zu künstlerischer Selbstverletzung liegt.

Denn angesichts der Bedrohung gibt das erhabene Individuum das preis, was es in erster Linie als machtlos erfährt: seinen Körper. Erst über diese Distanznahme von der eigenen Natur kann sich der Mensch, so Kant, fühlbar machen, dass er nicht nur ein Naturwesen und somit nicht vollständig unterworfen ist.

Subjektermächtigung - die Funktionalisierung der Krise

Untersucht man nun künstlerische Selbstverletzung auf die ihr zugrunde liegende Dynamik, so zeigt sich, dass auch hier der Versuch einer Krisenbewältigung stattfindet. Diese Krise kann sowohl wie bei Kant als Konfrontation mit dem Tod gedacht werden oder aber auch als jede andere Form fundamentaler Entmachtung - so etwa als politische Unterdrückung, wie sie insbesondere viele KünstlerInnen in den 1960er- und 1970er-Jahren thematisierten. Denn auch im Fall politischer Fremdbestimmung ist es zuvorderst der Körper, der als ohnmächtig, da gesellschaftlichen Machtstrukturen ausgesetzt, empfunden wird.

So beispielsweise bei VALIE EXPORT, deren selbstverletzenden Performances wie Hyperbulie zunächst die Wahrnehmung der eigenen, in erster Linie körperlichen Unterworfenheit unter patriarchale Gesellschaftsstrukturen zugrunde liegt. In diesem Sinn kann der Korridor aus Drähten als reglementierende Gesellschaft verstanden werden, die jeden Versuch des Ausbruchs am Körper durch Schmerz unterbindet.

"Kampfplatz Körper" als Ort des politischen Widerstands

Verweisen somit sowohl EXPORTS Aktionen als auch Kants Ästhetik des Erhabenen auf eine von Außen kommende Bedrohung, die sich primär über den Körper ereignet, so sind auch die Reaktionen auf diese scheinbare Übermacht weitgehend analog. Denn in einem zweiten Schritt zeigt uns der wiederholt aktiv gesuchte Kontakt mit dem Strom den Versuch, Schmerz mit Schmerz zu überwinden, um so die erlebte Entmachtung abzuwenden.

Indem EXPORT äußerer Gewalt über ihren Körper die eigene Macht über diesen entgegensetzt, kann der Akt der Selbstverletzung somit als Form des politischen Widerstands begriffen werden, der am "Kampfplatz Körper" ausgetragen wird; künstlerische Selbstverletzung verfolgt hierbei eine ähnliche Funktion wie politische Selbstinbrandsetzungen oder radikale Hungerstreiks. Als Ziel dieses Prozesses nennt EXPORT explizit Freiheit und Souveränität, die durch den autonomen Akt der Selbstverletzung gewonnen werden sollen.

Distanz zur eigenen Natur

Darüber hinaus signalisiert Selbstverletzung immer auch die Distanznahme von der eigenen Natur und damit den Anspruch, mehr als nur Sinnenwesen zu sein. Künstlerische Selbstverletzung demonstriert somit einen grundsätzlichen Freiheitsanspruch, der sich im Kantschen Sinne elementar über die Oppositionssetzung von Körper und Geist legitimiert; eine "Legitimation", die gerade vor der historischen Identifikation von Natur und Weiblichkeit an Bedeutung gewinnt, im Rahmen derer der Frau traditionell der Bereich des Geistes und damit der Freiheit abgesprochen wurde.

Ob als politischer Widerstand oder als fundamentale Trennung von freiem Individuum und unfreier Natur: In beiden Fällen wird die von Außen erfahrene Unterwerfung des Körpers funktionalisiert, d.h. der Körper im Sinne des Erhabenen preisgegeben, um sich hierüber als autonomes Selbst zu setzen.

Anhand selbstverletzender Body Art zeigt sich folglich ein erstaunlicher Vorgang, denn paradoxerweise lässt sich gerade die Prekarität des Individuums, in EXPORTS Fall die Einschränkungen, welche die Frau vornehmlich über ihren Körper in einer patriarchalen Gesellschaft erfährt, dazu nutzen, das Selbstverständnis eines souveränen Subjekts zu firmieren. Wie im Erhabenen erwächst gerade aus der Krisenhaftigkeit des Körpers die Chance, sich seine Unabhängigkeit von diesem fühlbar zu machen.

Naturunterwerfung und paradoxe Freiheit

Diese Möglichkeit, die Krise zu funktionalisieren und sie damit in ein Erleben der eigenen Souveränität zu kehren, basiert jedoch darauf, dass die von Außen erfahrene Verletzung in einem Akt der Willensdemonstration noch forciert wird. Wie in Kants Konzeption des Dynamisch-Erhabenen wird damit jedoch die gewaltsame Unterwerfung des Körpers auch im Prozess künstlerischer Selbstermächtigung konstitutiv.

Denn nur durch die Trennung von Körper und Wille scheint es dem prekären Subjekt möglich, den als unfrei erfahrenen Körper als das "Andere des Selbst" zu begreifen, um damit den Menschen auch in seiner äußersten Begrenztheit als frei denken zu können.

An das Moment der Selbstaufopferung gebunden, muss die hieraus gewonnene Freiheit jedoch stets paradox bleiben. Denn indem sich die Selbstversicherung gerade aus der Krise, aus dem Leiden am Körper "nährt", bleibt dieses Leiden auch in ihr unhintergehbar präsent; eine Präsenz, die exemplarisch in der Wunde der KünstlerInnen zu Tage tritt.

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