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gläserner Kopf

Wie ein Mensch denkt, der sich tot glaubt

Es gibt Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass sie tot sind: Cotard-Syndrom nennt das die Psychologie. Erstmals wurde nun ein solcher Patient - er glaubt, hirntot zu sein - per Gehirnscan untersucht. Ergebnis: Vor allem jene Gehirnbereiche, die für die Ich-Identität stehen, funktionieren schlecht.

Psychologie 27.05.2013

Von dem ungewöhnlichen Fall berichtet ein Team um die Neurologen Adam Zeman von der Universität Exeter und Vanessa Charland-Vervillea von der Universität Lüttich in einer Studie.

Die Studie:

"Brain dead yet mind alive: A positron emission tomography case study of brain metabolism in Cotard's syndrome" von Vanessa Charland-Vervillea und Kollegen ist am 12.4. in der Fachzeitschrift "Cortex" erschienen (Preprint-Version der Studie).

Vor 130 Jahren erstmals beschrieben

Das Cotard-Syndrom (CS) wurde erstmals 1880 von dem französischen Psychiater Jules Cotard als "nihilistischer Wahn" ("Delire des negations") beschrieben. Betroffene glauben, dass sie tot sind, zumindest Teile von ihnen gestorben sind oder die Welt aufgehört hat zu existieren. Hintergrund der Wahnvorstellung sind oft schwere Depressionen und Psychosen.

Wie weit verbreitet die Krankheit ist, ist unklar. Laut einer Studie aus dem Jahr 1995 weisen 0,6 Prozent von älteren Psychiatriepatienten entsprechende Merkmale auf. Eine vor kurzem erschienene Arbeit Wiener Mediziner kam zu dem Schluss, das 0,9 Prozent der von ihnen untersuchten Schizophreniepatienten unter CS leiden.

Graham, 48 Jahre, "tot"

Ein Betroffener ist Graham, wie ihn die britische Wissenschaftszeitschrift "New Scientist" in einem Artikel genannt hat. Der 48-Jährige war schwer depressiv und versuchte sich per Stromschlag in der Badewanne selbst zu töten.

Nachdem das misslungen war, erklärte Graham seinen Ärzten, dass sein Gehirn gestorben sei. "Ich habe gespürt, dass es nicht mehr existiert. Immer wieder habe ich den Ärzten erzählt, dass ihre Tabletten nicht helfen, weil ich kein Hirn mehr habe. Das hatte ich ja in der Badewanne verbrannt", wird er im "New Scientist" zitiert. Graham war komplett antriebslos, er wollte nicht mehr essen, sprechen oder sonst etwas tun.

"Letztlich habe ich meine Zeit auf dem Friedhof verbracht, weil ich dort dem Tod am nächsten war." In Gesprächen mit den Ärzten gab er zwar an, einen Geist zu haben, nicht aber ein Gehirn. Er war gefangen in einer Art Zwischenwelt zwischen Leben und Tod.

Wie im Schlaf oder unter Narkose

In diesem Moment kam Graham in Kontakt mit der Neurologengruppe um Zeman und Charland-Vervillea. Um herauszufinden, was in seinem Gehirn vor sich ging, legten sie ihn in einen Positronen-Emissions-Tomographen. Die Bilder seiner Gehirnaktivität verglichen sie dann mit jenen von 39 anderen, gesunden Menschen.

Es zeigte sich, dass sein Gehirn in vielen Bereichen "durcheinander war". In einigen Regionen war der Stoffwechsel viel stärker als bei Gesunden, in anderen viel geringer - speziell im Default Mode Network, das quasi die Aktivität des Gehirns im Ruhezustand darstellt.

Forscher gehen davon aus, dass dieses Nervennetzwerk wichtig ist für unsere Ich-Identität. Die unterschiedlichen Stoffwechselraten könnten das biologische Gegenstück sein zu Grahams subjektiv erlebter Trennung von Geist und Gehirn. Sein Gehirn funktioniert in etwa so wie das von Menschen, die schlafen oder unter Narkose sind, sagen die Forscher: Er ist dabei aber völlig wach.

Fragezeichen und ein Happy End

Das Rätsel des Cotard-Syndroms lösen kann die aktuelle Studie nicht, zum einen, weil sie nur einen Einzelfall schildert, zum anderen, weil auch nicht klar ist, woher seine Gehirnaktivität kommt. Sie könnte von der Krankheit stammen, genauso gut aber auch von der Therapie - den zahlreichen antidepressiven und antischizophrenen Mitteln, die er schluckte.

Auch die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn wird durch die Studie nur gestreift. Denn Graham könnte die Wahnvorstellungen wegen seiner Gehirnabnormalität haben genauso wie umgekehrt sein Gehirnverhalten wegen seiner Vorstellungen. Wie dem auch sei, die Geschichte ist zumindest für Graham gut ausgegangen. Sein Cotard-Syndrom ist dank Psychotherapie und Medikamenten schwächer geworden, er geht auch wieder spazieren und ist insgesamt antriebsstärker. "Ich fühle mich nicht mehr so gehirntot", sagt er, "und ich bin froh, dass ich lebe."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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