Standort: science.ORF.at / Meldung: "Ein Untersuchungslabor für Inzest"

Familienportrait der Habsburger

Ein Untersuchungslabor für Inzest

Die Habsburger haben Europa über Jahrhunderte geprägt. Das Adelsgeschlecht ist aber nicht nur für Historiker interessant, sondern auch für Genetiker. Dank ihrer jahrhundertelangen Verwandtenheirat sind sie ein "Labor für Inzest". Eine Art genetische Selbstreinigung habe dafür gesorgt, dass dieses Labor so lange existiert hat, sagt eine neue Studie.

Habsburger 03.06.2013

Vor allem im spanischen Zweig der Habsburger wurde hauptsächlich innerhalb der nahen Verwandtschaft geheiratet. Mit drastischen Folgen: Die Habsburger verzeichneten nicht nur eine hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit, sondern auch schwere Behinderungen bei jenen, die überlebten. Schließlich starb die spanische Linie der Habsburger mit Karl II., genannt "der Verhexte", 1700 aus.

Buch und Veranstaltung:

Michael Mitterauer hat vor kurzem den Sammelband "Historische Verwandtschaftsforschung" veröffentlicht (Böhlau Verlag) und wird darüber am 6. Juni mit dem Romanisten Wolfram Aichinger diskutieren (Ort: "Alte Kapelle" am Campus der Universität Wien).

Aktuelle Studie:

"Royal dynasties as human inbreeding laboratories: the Habsburgs" von Gonzalo Alvarez und Francisco Ceballos ist am 10.4. im Journal "Heredity" erschienen.

Link:

Eine Dynastie mit Hilfe der Päpste

"Der Brauch der Verwandtenheirat kommt aus dem kastilisch-portugiesischen Verwandtenkreis der Habsburger, nicht von deren österreichischen Vorfahren", betont Michael Mitterauer, emeritierter Professor für Wirtschafts-und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Mit Johanna "der Wahnsinnigen" verbreitete er sich seit Anfang des 16. Jahrhunderts sowohl in den spanischen als auch in den österreichischen Zweig der Dynastie.

Habe die Kirche früher grundsätzlich Verwandtenheiraten verboten und Verstöße mit Bann geahndet, wurden sie durch das Konzil von Trient den großen Fürstenfamilien bis zum zweiten Verwandtschaftsgrad - allerdings unter Dispenspflicht - erlaubt. "Die Päpste wurden nun zu willfährigen Erfüllungsgehilfen dynastischer Heiratspolitik", so der Historiker.

Altkastilisches Erbfolgeprinzip

Zurückzuführen seien diese Verwandtenheiraten auf mehrere Gründe. Einerseits galt unter den spanischen Habsburgern das altkastilische Erbfolgeprinzip der "kognatischen Primogenitur" mit Präferenz für Männer. Das bedeutet, dass männliche Nachkommen bei der Erbfolge bevorzugt werden - ist aber kein Sohn vorhanden, kann das Erbe auch über die älteste Tochter weitergegeben werden.

Das hatte zur Folge, dass auch darauf geachtet werden musste, die älteste Tochter in der Familie zu verheiraten. "Es herrschte immer ein gewisser Druck: Der Ehepartner soll ein Habsburger sein", so Mitterauer. Das Prinzip des Dynastizismus stand über allem.

Cousinenheiraten war üblich

Zusätzlich nahm das Geblütsdenken im katholischen West- und Mitteleuropa zu. Potenzielle Ehepartner mussten aus einer gleichrangigen Position kommen. Die Auswahl der Heiratskandidaten reduzierte sich auch durch die Reformation noch einmal drastisch: Angehörige protestantischer Königreiche oder Fürstentümer fielen weg.

"Man scheint zwar um die Folgen der Verwandtenheiraten gewusst zu haben, aber der Gedanke der Herrschaftskonzentration in habsburgischer Hand überwog." Alltäglich seien daher Cousinenheiraten gewesen, erklärte der Historiker. Aber auch vor der genetisch weitaus bedenklicheren Heirat zwischen Onkeln und Nichten sei man nicht zurückgeschreckt - so etwa Philipp II., der Vater des berühmten Don Carlos.

Warum starben sie nicht schon früher aus?

Die Auswirkungen dieses Inzests beschäftigen auch die Genetiker. Ein Team um Francisco Ceballos von der Universität Santiago de Compostela hat bereits vor vier Jahren in einer Studie einen habsburgischen Inzuchtquotienten berechnet, der letztlich zum Aussterben der spanischen Linie führte.

Nun hat er eine weitere Arbeit veröffentlicht, die sich fragt, warum sie nicht schon viel früher ausgestorben ist. Ceballos vermutete einen gewissen genetischen "Selbstreinigungseffekt" bzw. eine "natürliche Selektion", die zwar für die hohe Sterblichkeitsrate unter Kindern und Säuglingen verantwortlich sein soll, aber so das langfristige Überleben garantierte.

Mit seinem Kollege Gonzalo Alvarez untersuchte er die Verwandtschaften, Heiraten und Sterblichkeit von rund 4.000 Personen in der Zeit von etwa 1450 bis 1800. Dabei konnten die Forscher 502 Schwangerschaften in 71 Habsburger-Familien feststellen; 93 verstorbene Säuglinge und 76 verstorbene Kinder (bis zum zehnten Lebensjahr) verzeichneten sie. Die Zahl sei zwar für die Zeit nicht ungewöhnlich, allerdings wären die Königskinder wesentlich behüteter aufgewachsen als die normale Bevölkerung, seien ärztlich versorgt und etwa von Kriegen oder Hungersnöten verschont worden.

Mehr Krankheitsmutationen

Die Forscher berechneten auch den "Verwandtschaftskoeffizienten", mithilfe dessen vor allem Aussagen über die Ähnlichkeit des Genmaterials getroffen werden können. Bei insgesamt 73 Heiraten war der durchschnittliche Verwandtschaftsgrad höher als eine Ehe zwischen Cousins ersten Grades, 13 Vermählungen waren verwandtschaftlich enger als eine Heirat zwischen Onkel und Nichte.

Für zwei Fälle konnte sogar ein höherer Verwandtschaftskoeffizient als bei einer Heirat zwischen Bruder und Schwester festgestellt werden - etwa für die Eltern von Karl II., dem letzten spanischen König, im Volksmund als "der Verhexte" bekannt.

Sehr wahrscheinlich sei diese hohe Inzuchtrate auch für die erhöhte Kinder- und Säuglingssterblichkeit sowie die große Anzahl an Behinderungen bei den Überlebenden verantwortlich zu machen, folgern die Wissenschaftler.

Denn Inzucht erhöht die Wahrscheinlichkeit deutlich, ein normalerweise rezessives Gen, das eine Krankheitsmutation trägt, zu erben. Sollte tatsächlich ein gewisser natürlicher "Selbstreinigungseffekt" eintreten - so die weitere Hypothese -, müsste sich die Zahl der Säuglings- und Kindertode im Laufe der Jahrhunderte senken.

Hat schon "natürliche Selektion" angesetzt?

Tatsächlich meinen Ceballo und sein Team, diese "natürliche Selektion" bei den Habsburgern gefunden zu haben: Die Kindersterblichkeit in den Jahren 1450 bis 1600 sei weitaus höher als in den Jahren 1600 bis 1800. Allerdings verhalte es sich mit der Säuglingssterblichkeit genau umgekehrt.

Das führt Ceballo auf unterschiedliche Mutationen zurück: Genmutationen, die fast immer schwere Krankheiten wie etwa Mukoviszidose auslösen, würden nach den Regeln der Evolutionstheorie schneller verschwinden als solche, die nur manchmal ausbrechen. Die erhöhte Säuglingssterblichkeit auch in den späteren Jahrhunderten könnte auf diese seltener ausbrechenden Krankheiten zurückzuführen sein.

Genau hier setzt jedoch die Kritik seiner Kollegen an. Der australische Genetiker Alan Bittles bezweifelte gegenüber dem Journal "Nature", dass nur die Kindersterblichkeit betroffen sein solle.

Er rät zu Studien mit aktuellen Daten, etwa in der Population Südindiens, wo Verwandtschaftsheiraten auch heute teils noch üblich sind. Auch sein Kollege Leonid Kruglyak, Genetiker an der Princeton University, glaubt eher an statistische Schwankungen aufgrund des kleinen Samples als an "natürliche Selektion".

science.ORF.at/APA

Mehr zu dem Thema: