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Lächelnder japanischer Politiker

Wohlstand ist nicht gleich Glück

Gute Bildung, eine lange Lebenserwartung und eine sichere Gesundheitsversorgung machen nicht automatisch glücklich, wie Studien zeigen. Ein Beispiel dafür ist Japan: Dort hat man sich die kapitalistischen Werte zu Eigen gemacht - die Einwohner sind aber längst nicht so zufrieden, wie man angesichts des Wohlstands glauben könnte.

Gesellschaft 19.06.2013

Japans Bewohner haben weltweit mit die höchste Lebenserwartung - laut UNDP liegt sie bei 83,6 Jahren. Der Inselstaat ist heute zudem beim Wohlstand mit anderen hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften gleich auf - und schaffte diesen Sprung als erstes nicht-westliches Land. Doch wie steht es um "shiawase" oder "kōfuku", also das persönliche Glück der Japaner? Laut Umfragen jedenfalls nicht gut. Wie auch die jüngste Gallup-Erhebung zeigt: Hier liegt Japan bei den positiven Gefühlen nur im Mittelfeld.

Zu den Personen:

Wolfram Manzenreiter kam 2004 ans Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien und ist dort seit Mai 2013 als Professor für sozialwissenschaftliche Japanforschung tätig. Gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Japanstudien organisiert der Japanologe Ende April 2014 die Konferenz "Deciphering the social DNA of happiness - life course perspectives from Japan".

Florian Coulmas ist Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, das seit 2008 einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Glück hat. Auf Einladung des Wiener Instituts für Ostasienwissenschaft hielt der deutsche Japanologe gestern einen Vortrag zum Thema "Glück in Japan - wie man es misst".

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Nicht um ein Jota mehr Glück

"Wir bilden uns ein: Je reicher, desto glücklicher. Je länger das Leben, desto glücklicher." Aber diese Formel funktioniert schon in der westlichen Welt nicht, wie der deutsche Japanologe Florian Coulmas ausführt: "In Amerika, Deutschland und Österreich hat sich das Pro-Kopf-Einkommen seit Mitte des 20. Jahrhunderts vervielfacht, während die Lebenszufriedenheit gleich geblieben ist." Kurzum: "Es hat Wachstum gegeben, aber nicht um ein Jota mehr an Glück."

Manche Glücksforscher sprechen hier vom "Easterlin-Paradox", benannt nach dem US-Ökonomen Richard Easterlin. Doch das Wort "Paradox" ist für Coulmas fehl am Platz. Es vertuscht nur "ein Dilemma". Denn man könne sich ebenso fragen: Warum arbeitet der Mensch eigentlich so viel, wenn er dadurch nicht zufriedener wird? "Vielleicht sollte man besser sagen: Wir können ganz froh sein, wenn wir eine ganze Weile arbeiten und dabei nicht unglücklicher werden!"

Schwer zu fassen

Das Problem mit der Vermessung des Glücks ist vielschichtig. Allein die Frage, was Glück ist, ist schon höchst kompliziert. Es ist eben eine höchst subjektive Angelegenheit - wie auch eine Mentalitätsfrage. "Wir wissen seit einigen Jahren, dass die Japaner bei allen möglichen Meinungsumfragen auffällig in Richtung Mitte tendieren", sagt der Wiener Japanologe Wolfram Manzenreiter.

"Selbst wenn es uns gelingt, eine absolut akkurate Übersetzung für Glück zu erstellen, haben wir immer noch keine internationale Vergleichbarkeit", meint auch Florian Coulmas, der das Deutsche Institut für Japanstudien in Tokio leitet und diese Woche in Wien einen Vortrag zum Glück in Japan hielt. In den USA gehöre der Satz "Ich bin total zufrieden" zur amerikanischen Kultur. In Japan hingegen nicht: "Dort ist die Neigung, sich zu exhibitionieren, eben sehr gering."

Eine (westliche) Vision

Die Zufriedenheit ist in der westlichen Welt ein Grundbestandteil der Lebensbetrachtung. Die Französische Revolution schrieb sich auf ihre Fahnen, die gesamte Gesellschaft - noch in diesem Leben - glücklich zu machen. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gibt jedem das Recht, dem nachzustreben. "Das sind zwei starke Ideologeme, die im politischen Bewusstsein der westlichen Welt eine enorm starke Rolle spielen", meint Coulmas. In Ostasien habe die Frage nach dem Lebensglück sehr lange einen viel geringeren Stellenwert gehabt.

Das individuelle Glück ist auch nicht für jede Gesellschaft gleichermaßen gültig. Im Konfuzianismus hat etwa das Streben nach Bildung einen wesentlich höheren Wert. "Er geht auch von einer Gesellschaft aus, die nicht das Glück des einzelnen favorisiert, sondern versucht, eine Balance zu erreichen - ein ausgewogenes Verhältnis zwischen allen Teilen eines Ganzen. Wo das Glück des Einzelnen vom Glück des Kollektivs abhängt", so Wolfram Manzenreiter.

Der Vergleich des Glücks ist ein schwieriges Unterfangen - vielleicht sogar ein erfolgloses. Jedenfalls kommen Florian Coulmas immer größere Zweifel, "dass man den Inhalt dessen, was die Menschen zu einem zufriedenen Leben brauchen, vergleichen kann". Er selbst forscht zu diesem Thema seit 2008.

Gesellschaftliche Umbrüche

Trotzt aller Unschärfen bei der Messbarkeit von Glück: Woher kommt nun die japanische Unzufriedenheit? Der Erfolg, dass Japan zu einem der reichsten Länder der Welt geworden ist, führte zu einer tiefgreifenden Veränderung der Gesellschaft. Er habe, so Coulmas, den Menschen viel abverlangt. Die Alterung der Gesellschaft ist für Japan zwar eine soziale Errungenschaft. Aber mit Folgen: "Bis heute wurden etwa vier Millionen Demenzkranke produziert. Und der Trend geht weiter", erzählt der Japanologe. Was früher ein Individualproblem war, ist heute ein Massenproblem. Es kann von den Familien alleine nicht mehr aufgefangen werden.

Japan leidet zudem an einer geringen Geburtenrate. Die Gründe sind laut den Forschern nicht leicht zu ermitteln. Einer mag die Alterung der Gesellschaft und der erhöhte Pflegeaufwand für die ältere Generation sein. Auch die zunehmende weibliche Erwerbsbeteiligung und der Umbau der Arbeitswelt durch die neoliberale Agenda, die in der Mitte der 1980er-Jahre ihren Anfang nahm, sind Ursachen dafür.

So entwickelte sich die japanische Gesellschaft von einer extrem egalitären zu einer sehr ungleichen Gesellschaft. "Das institutionelle Arbeitsgefüge Japans gerät ins Wanken", diagnostiziert Wolfram Manzenreiter. Die Rezession und Finanzkrise hätten ihres dazu beigetragen.

Ausdruck dessen ist, dass heute nahezu 40 Prozent der Arbeitsverhältnisse irregulär sind: Zeitverträge, Teilzeit- und Leiharbeit ersetzen feste Anstellungen. Zudem arbeiten Mann und Frau. Das sind für Coulmas "eben die Mechanismen der kapitalistischen Entwicklung".

In der Krise?

Lange galt es als die Erfüllung, für "sein" Unternehmen tätig zu sein, bis hin zur Aufopferung ("Karōshi" – japan. für den Tod durch Überarbeitung). Die Vermutung liegt nahe, dass schon das alte japanische Arbeitssystem nur wenig individuelles Glück zuließ. Doch Studien von Psychologen sprechen dagegen. So wurden etwa Amerikanern und Japanern Bilder einer Gruppe von Kindern vorgelegt, bei dem ein Kind etwas gewonnen hatte. Auf dem einen Bild lachten alle Kinder. Auf dem anderen lachte nur der Sieger. Die Japaner stuften jenen Sieger als glücklicher ein, der mit den anderen lacht. Die Amerikaner jenen, der über die anderen obsiegt hatte.

"Das heißt der Inhalt dessen, was als Individualglück empfunden wird, unterscheidet sich. Nicht die Art und Weise, wie es erreicht wird. Daher ist es verkehrt anzunehmen, dass die Identifikation für die Firma das Individualglück hinten anstellt", sagt Coulmas. Vielmehr realisiere es sich darin.

Schon vor fast zehn Jahren berichtete "The Economist" von einer Identitätskrise Japans, aufbauend auf einem Buch des amerikanischen Japanologen John Nathan. Auch heute noch vernimmt man immer wieder, dass Japan nicht mehr das ist, was es einmal war.

"Die Hoffnung ist verloren gegangen"

"Oder man spricht von ‚einer verlorenen Generation’ - jenen, die aus dem Arbeitssystem gefallen sind. Die sozialen Krisen, die verdreifachte Selbstmordrate zwischen 1995 und dem Ende der 2000er Jahre: Das alles akkumuliert sich dazu, das man sagt: Die Hoffnung ist verloren gegangen", sagt Manzenreiter. Das führte prompt zu einem neuen Forschungsfeld: die Hoffnungsforschung "kibogaku".

Auch die japanische Regierung hat reagiert. So wurden vor rund vier Jahren landesweit Umfragen durchgeführt, um zu eruieren, wie zufrieden die Japaner sind - und was ihrer Meinung nach die Regierung tun könnte, um sie glücklicher zu machen.

Maßnahmen, etwa die Gründung von "Glückskommissionen", sind auch in westlichen Ländern keine Seltenheit. Es gibt sie in Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Für Florian Coulmas ist das "ein Epiphänomen der Krise des Kapitalismus, das man schwer übersehen kann." Das Bewusstsein, das Wachstum allein die Menschen nicht unbedingt glücklicher macht, nehme zu. Nur: Die Konsequenzen, die man daraus ziehen soll, seien außerordentlich schwierig. "Die Zauberformel für ein kapitalistisches System ohne Wachstum hat noch niemand gefunden."

Lena Yadlapalli, science.ORF.at

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