In Südosteuropa ist die humanitäre Situation von Asylwerbern oft katastrophal, sagt Tsianos im Interview anlässlich des Weltflüchtlingstags am Donnerstag. Gelangen sie aber in die reicheren Länder wie Österreich ist die Lage für sie oft noch schlimmer.
science.ORF.at: Sie waren vor zwei Jahren im griechischen Hafen Igoumenitsa: Was haben Sie dort erlebt?
Zur Person:

Universität Hamburg
Vassilis Tsianos ist Projektkoordinator des Forschungsschwerpunktes "Border crossings" im EU-Projekt "MIG@NET transnational digital networks. migration and gender" und Lektor an der Universität Hamburg.
Links:
Weitere Texte von bzw. zu Tsianos:
- Eurodac und die digitale Deportabilität
- Migrantenkinder als Dolmetscher für ihre Eltern, Deutschlandradio Kultur
Veranstaltung:
An der Universität Wien lief im Sommersemester die interdisziplinäre Ringvorlesung "Migrationsregime und aktuelle Flüchtlingsproteste - Verbindungen von Forschung und politischem Aktivismus", letzter Termin: 27.6.
- Programm der Ringvorlesung, pdf-Datei
Ö1 Sendungshinweise:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 20.6., 13:55 Uhr.
Gedanken für den Tag von Franz Küberl. "Auf der Flucht" - Gedanken zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni., 17.-21.6., 6:56 Uhr.
Journal-Panorama: Von der Not ins Elend: Der Alltag anerkannter Flüchtlinge in Österreich, 17.6., 18:25 Uhr.
Vassilis Tsianos: Ich habe dort gemeinsam mit meiner Kollegin Brigitta Kuster Feldforschung betrieben, im Rahmen eines von der EU finanzierten Projekts zur Lage der Grenzen in Südosteuropa. In Igoumenitsa gab es etwas für Soziologen Großartiges: ein von Flüchtlingen selbstorganisiertes Camp gleich vis-à-vis des Hafens, in dem wir ihren Alltag und den Umgang mit Behörden und Grenzpolizei beobachten konnten. Uns hat die Art fasziniert, wie souverän diese illegalisierten Menschen mit ihrem Schicksal in einem Land umgehen, das sie nicht als Europa bezeichnen.
Griechenland zählt nicht zu Europa?
Nicht für diese Flüchtlinge. Sie stammten aus Ägypten, Libyen, Marokko, Tunesien und anderen Ländern des Arabischen Frühlings, den sie mehrheitlich miterlebt und mitgestaltet hatten. Die EU war für sie ein demokratisches Versprechen; ihre "Reise nach Europa" - sie haben das nicht "Migration" genannt - die logische Fortsetzung dessen, was ihre Kämpfe für mehr Demokratie in ihrer Heimat bedeuteten. Und plötzlich waren sie konfrontiert mit diesem "nicht-europäischen Land". Sie bezeichneten Igoumenitsa - der letzte Hafen Griechenlands vor Albanien, von dem aus sie nach Italien wollten - als "Mistkübel des Mistkübels von Europa". Diese Protagonisten des Arabischen Frühlings sahen die Normalität des europäischen Grenzregimes: Verelendung, eine katastrophale humanitäre Lage, keine Infrastruktur für die Aufnahme von Asylanträgen, keine Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten. Griechenland war eine Fortsetzung dessen, was sie bereits aus ihren Herkunftsländern kannten: Polizeigewalt und Beamtenwillkür, dazu kam nun auch noch Alltagsrassismus. Die Flüchtlinge sind vom Demokratieversprechen Europas schwer enttäuscht.
Sie haben sich auch mit den Votivkirchenflüchtlingen in Wien beschäftigt - gibt es Ähnlichkeiten zu der Situation in Griechenland?
Ja, wie Interviews gezeigt haben, die wir mit ihnen gemacht haben. Sie empfanden die Aufnahmeanstalten, die Behandlung ihrer Asylanträge, die Duldungsgesuche etc. ähnlich unzumutbar. Interessant war für mich, dass einige von ihnen vorher in Igoumenitsa gewesen sind. Sie meinten, dass sie sich in Griechenland noch besser gefühlt haben, weil sie dort keine großen Erwartungen hatten. In Österreich hingegen sind sie an die Grenze der Mobilität gelangt. Sie überstanden die Strapazen des Transits, in Griechenland und in Italien, wo sie zwar formell aufgenommen worden waren, wo es aber de facto unmöglich war für sie zu überleben. Da es für sie nun im "zivilisierten Zentraleuropa" keine Option auf Weiterreise oder ein würdiges Leben gibt, ist es das Ende ihrer Hoffnung, eine riesige Enttäuschung.
Das EU-Parlament in Straßburg hat vorige Woche grünes Licht für die Reform des europäischen Asylsystems gegeben, darunter auch die einheitliche Behandlung aller Asylwerbenden in der EU. Wie ist Ihr Urteil der Reform?
Ich finde die Idee der Vergemeinschaftung der humanitären Asylpolitik prinzipiell sehr gut. Das Problem ist aber, dass dabei letztlich noch immer die EU-Mitgliedsländer das Sagen haben. Letztlich geht es bei der Reform um verbesserte Ausgangsbedingungen für sie und nicht um die Asylsuchenden. So lange die Situation de facto so ist wie in Ländern wie Italien, Griechenland, Malta, Zypern, Ungarn oder Tschechien - wo eine grundlegende humanitäre Infrastruktur fehlt - verbessert sich die humanitäre Situation für die Asylwerbenden nicht.
Warum ist das so?
Es gibt in Sachen Asyl- und Migrationspolitik leider keine Gemeinsamkeit in Europa, sondern zwei oder drei Geschwindigkeiten, mit denen nationale oder regionale Interessen durchgesetzt werden. Südeuropa, das am meisten mit Migration konfrontiert ist, ist natürlich sehr am Transit und am Aufbau der entsprechenden Infrastruktur interessiert. Zentral- und Nordeuropa pochen - ebenso nachvollziehbar - v.a. auf die existierenden Dublin-II-Regelungen, allen voran auf die Verantwortlichkeit jener Länder, in denen der Erstantrag für Asyl gestellt wurde. Da gibt es Spannungen und die gehen letztlich auf Kosten der Asyl- und Menschenrechte. Im Gegensatz zu den Mitgliedsstaaten können die Migranten dabei in keiner Weise mitreden.
Migration ist politisch ein sehr heikles Thema. Wenn man die Leute in den Einwanderungsländern fragt, sprechen sie sich oft für strenge Asylgesetze aus, wie zuletzt bei der Volksabstimmung in der Schweiz. Wie begegnen Sie dem als Wissenschaftler?
Die Soziologie hat eine longue durée, wir denken in langen Zeiteinheiten. Am Beispiel der Schweiz sieht man, was passiert, wenn man das nicht tut. Sie hat die Lehren aus der eigenen Migrationsgeschichte nicht gezogen. Obwohl die Schweiz immer versucht hat, das restriktivste Migrationssystem in Europa durchzusetzen, hat sie heute einen der höchsten Ausländeranteile in Europa.
Wie ist es zu diesem Paradox gekommen?
Alle europäischen Staaten sind auf Migration angewiesen, und zwar ganz unterschiedlicher Art: Sie brauchen saisonale, flexible, hoch- und niedrigqualifizierte Arbeitskräfte. Das gilt auch für die Schweiz. Dort hat es in den 70er und 80er Jahren eine sehr restriktive Politik gegeben, was die Aufenthaltszeit von Gastarbeitern betrifft. Es wurde dabei aber auf den Familiennachzug vergessen und die damit verbundenen menschenrechtlichen Konsequenzen (in der Schweiz werden im Vergleich zu anderen Ländern viel weniger Menschen eingebürgert, Anm.). Es ist eigentlich ganz einfach: Nicht Arbeitskräfte migrieren, sondern Menschen und ihre Lebenszusammenhänge.
Was würden Sie als Vertreter einer Zunft, die langfristig denkt, Menschen sagen, die vielleicht kurzfristig Angst vor den Asylwerbern haben, weil sie fremd sind oder Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt?
Meine Zunft hat nicht mit Ängsten zu tun, dafür sind die Psychologen zuständig oder die Populisten in der Politik. Wenn wir Ängste aber rationalisieren wollen, müssen wir über Zahlen sprechen. Nur zwei Prozent der Weltbevölkerung sind Migranten. Europa ist nur in einem sehr geringen Ausmaß davon betroffen, weil es für die meisten von ihnen nicht attraktiv genug ist. Außerdem migrieren nicht die Ärmsten und Elendsten, sondern diejenigen, die handlungsfähig sind und soziale Ressourcen mobilisieren können. Und letztlich gibt es kein Einwanderungsland, das nicht von Migration profitiert hat. Wenn sie das nicht täten, würden sie die Migration militärisch à la DDR bekämpfen.
Am 20. Juni ist UNO-Weltflüchtlingstag. Halten Sie das für einen wichtigen Gedenktag?
Ich finde es immer wichtig, die Brisanz der humanitären Lage in und um Europa in Asylfragen zu thematisieren und den Blick auf Migration im Alltag anders zu lenken. Solche Tage können dafür sehr sinnvoll sein.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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