In der 935 Seiten umfassenden Biografie von Benoît Peeters werden erstaunliche Facetten sichtbar: Der Leser/die Leserin erfährt, dass Derrida in seiner Jugendzeit in Algerien ein begeisterter Fußballer war, sich in seiner akademischen Glanzzeit ständig überarbeitet fühlte und deswegen Aufputschmittel in großen Mengen zu sich nahm.
Man lernt die Freundschaften von Derrida mit Maurice Blanchot, Emmanuel Levinas, Louis Althusser, Paul de Man und Jean-Luc Nancy kennen; man erfährt einiges über die im scharfen Ton geführten Debatten mit Jacques Lacan, Michel Foucault und Claude Lévi-Strauss und kommt insgesamt in Kontakt mit einem sensiblen Menschen, der zweifellos zu den originellsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zählt.
Literaturhinweise:
Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Suhrkamp Verlag
Benoît Peeters, geboren am 28. August 1956 in Paris, ist ein französischer Autor von Comic-Szenarien, Essays, Romanen, Sachbüchern und Hörspielen. Seit 1978 lebt er in Belgien. Er hat unter anderen auch eine Biografie über Paul Valéry verfasst.
Wichtige Publikationen von Jacques Derrida:
"Die Stimme und das Phänomen", edition suhrkamp Band 2440
"Grammatologie", suhrkamp Taschenbuch wissenschaft Band 417
"Die Schrift und die Differenz", suhrkamp taschenbuch wissenschaft, band 177
"Über die Freundschaft", suhrkampp taschenbuch wissenschaft Band 1608
"Dissemination", Passagen Verlag
"Chora", Passagen Verlag
"Psyche. Erfindung des Anderen", Passagen Verlag
"Das Tier, das ich also bin", Passagen Verlag
"Glas", Wilhelm Fink Verlag
Sekundärliteratur:
Geoffrey Bennington /Jacques Derrida: "Jacques Derrida. Ein Portrait", Suhrkamp Verlag
Alexander Garcia Düttmann: "Derrida und ich. Das Problem der Dekonstruktion", transcript Verlag
Links:
- Leseprobe "Jacques Derrida - Eine Biographie", Suhrkamp Verlag
- Jacques Derrida , Wikipedia
- Jacques Derrida , Internet Encyclopedia of Philosophy
- Benoît Peeters, Wikipedia
Ein Leben wie ein Roman
Im Vorwort seiner Biografie rechtfertigt Peeters sein Projekt mit dem Hinweis, dass sich Derrida selbst sehr für die Biografien von Philosophen wie Hegel, Nietzsche oder Heidegger interessiert habe. Er bedauert es sogar, dass so wenig über das Leben von bedeutenden Philosophen bekannt ist und fordert dazu auf, gute Biografien von Philosophen zu schreiben.
Dieser Forderung ist Peeters nachgekommen und hat eine einfühlsame Biografie Derridas vorgelegt, die diskret den Verlockungen von Tratschgeschichten widersteht. Derrida, der in manchen seiner Werke an die kryptischen Passagen des Romans "Finnegans Wake" vom irischen Schriftsteller James Joyce erinnert, mutiert während der Lektüre zu einer Romanfigur, deren verschlungene Wege man gespannt verfolgt.
"Fremd bin ich eingezogen, fremd zog ich wieder aus"
Die Biografie von Peeters versammelt eine beachtliche Materialfülle: Er hat mit etwa einhundert Personen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis Derridas gesprochen und zahlreiche Korrespondenzen, die einen eindrucksvollen Einblick in die psychische Disposition des Philosophen erlauben, gesichtet. In einem Brief schreibt Derrida: "Ich fühle mich weder in der Universität noch außerhalb der Universität zu Hause. Freilich, geht es darum, zu Hause zu sein?"
Immer wieder tauchen in der Biografie Zitate Derridas auf, in denen er über seine Isolation, seine Entfremdung und seine Unfähigkeit, sich einem Kollektiv anzupassen, spricht. Angesichts dogmatischer philosophischer Systeme, äußert er in einem Gespräch, fühle er sich - ähnlich wie Ludwig Wittgenstein - "wie eine Fliege, die die Gefahr erkannt hat, gefangen, gelähmt, Geisel, in die Falle gelockt durch ein Programm."
Genese eines Outsiders
Peeters beschreibt eindrücklich die Genese von Derridas Außenseiterdasein, die in seiner Jugend anzusiedeln ist. Er wurde als Sohn jüdischer Eltern in seiner algerischen Heimat, die damals noch eine französische Kolonie war, mit antisemitischen Bemerkungen konfrontiert und wegen seiner jüdischen Herkunft auf Anordnung des Vichy-Regimes vom Unterricht vom Gymnasium ausgeschlossen.
"Ich vermag mich nicht zu erinnern, ob mich dies sehr heftig oder nur dumpf und unbestimmt verletzt hat", notierte Derrida.
Ausführlich beschreibt Peeters die weiteren Stationen der Außenseiter-Existenz wie die Gymnasialjahre am Lycée Louis-le-Grand in Paris, die Studienjahre und die Lehrtätigkeit an der Ecole Normale Supérieure.
Erste Aufmerksamkeit erregte Derrida in der philosophischen Fachwelt mit der Publikation der Husserl-Interpretation "Die Stimme und das Phänomen", in der wesentliche Termini seiner Philosophie wie "die Spur", "der Aufschub", die "différance" oder das "Supplement" auftauchten.
Grammatologie - Wissenschaft von der Schrift
Der wissenschaftliche Durchbruch gelang Derrida mit dem Werk "Grammatologie"; es ist laut Peeters "die Matrix, von der das Wesentliche seiner weiteren Arbeit abhängt". In diesem Buch attackierte Derrida die von zahlreichen Philosophen praktizierte Verwerfung der Schrift. Bereits Platon hatte die Abwertung der Schrift propagiert; für ihn war die Schrift eine Notlösung; ein pharmakon, das die originäre Sprache ersetzen sollte.
Gegen die Verurteilung der Schrift, die selbst der Linguist Ferdinand de Saussure betrieb, indem er von der Gefahr der Schrift sprach und vor der Tyrannei der Buchstaben warnte, betonte Derrida die Bedeutung der Schrift - der "écriture".
"Dekonstruktion"
In diesen Jahren entfaltete Derrida das Konzept der "Dekonstruktion", das heute weitgehend als Synonym für die philosophische Arbeit Derridas steht, obwohl er, wie Peeters anmerkt, diesen Begriff später nicht mehr schätzte.
Der sachkundige Biograf beschreibt die Wahl dieses zentralen philosophischen Ausdrucks anhand von Derridas "Brief an einen jüdischen Freund": Der Begriff "Dekonstruktion" sollte ursprünglich der Übersetzung von Heideggers "Destruktion" in Bezug auf die Architektonik der Grundbegriffe der abendländischen Metaphysik dienen.
Dabei darf "Dekonstruktion" nicht mit Destruktion oder radikalem Nihilismus verwechselt werden. Dekonstruktion bedeutet, den Aufbau eines philosophischen Diskurses genau zu studieren. Meist hat sich gezeigt, dass in den philosophischen Theorien Hierarchien existieren, die dem Autor oft gar nicht bewusst waren und die gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln.
Anwendung der "Dekonstruktion"
Derrida beschränkte vorerst seine Strategie der Dekonstruktion auf das Gebiet philosophischer Texte, später erfuhr sie eine Erweiterung auf dem Gebiet der Ethik, der Politik und der Universität.
Außerdem engagierte sich Derrida für eine Demokratisierung der Wissenschaft und setzte sich auch für politisch Verfolgte ein. So erhob er seine Stimme gegen die südafrikanische Politik der Apartheid und wandte sich gegen die Repression der tschechoslowakischen Kommunisten nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968.
Erneute Traumatisierung
Diesen Angriff nahmen ihm die herrschenden Politbonzen übel und verhalfen Derrida während eines Aufenthalts in Prag unter dem Vorwand des Drogenbesitzes - zu einem kurzfristigen Gefängnisaufenthalt, über den er nach seiner Rückkehr nach Paris medienwirksam berichtete.
Dieses Erlebnis war für Derrida ein tiefgreifender Schock, wie Peeters berichtet: "Bilder von Prag verfolgten ihn monatelang; regelmäßig wird er den Eindruck haben, verfolgt, abgehört oder gehetzt zu werden". Der Gefängnisaufenthalt löste bei ihm traumatische Erinnerungen an jenen Tag aus, als er vom Gymnasium in seiner algerischen Heimat verwiesen wurde.
Internationaler Ruhm: Anerkennung und Feindschaft
Spätestens seit der viel diskutierten Konzeption der "Dekonstruktion" gilt Derrida als einer der Stars der sogenannten postmodernen Philosophie mit all den üblichen Begleiterscheinungen: Derrida hielt Vorträge und nahm an Seminaren in renommierten europäischen und US-amerikanischen Universitäten teil.
Ausführlich beschreibt Peeters auch die Gastaufenthalte Derridas an den Universitäten von Baltimore, Yale und Irvine, die wesentlich zu seiner internationalen Anerkennung beitrugen. Der wachsende Ruhm hatte auch seine Schattenseiten: So beklagte sich Derrida immer wieder über seine Reisemüdigkeit, die fast ununterbrochene Arbeit strengte ihn an; er fühlte sich ausgelaugt und wurde immer wieder von Depressionen heimgesucht.
Dazu kam noch, dass ein Teil der philosophischen scientific community, die sich der analytischen Philosophie zugehörig fühlte, extrem aggressiv auf Derridas Werk reagierte. Das wurde besonders deutlich, als achtzehn international angesehene Professoren wie Ruth Barcan Marcus, Barry Smith, Willard Van Orman Quine, und René Thom schriftlich gegen eine Ehrenpromotion von Derrida in Cambridge protestierten und seine Werke in die Nähe von intellektueller Taschenspielerei rückte, was ihn ebenfalls tief verletzte.
Ein menschenfreundlicher Philosoph
Peeters geht es in seiner Biografie weniger um eine Einführung in das theoretische Werk Derridas, sondern um eine lebendige, anschauliche Beschreibung seiner Persönlichkeit. Das gelingt dem Biografen besonders gut in dem Kapitel "Porträt des Philosophen mit sechzig Jahren", in dem Derrida als fürsorglicher und freundlicher Familienvater dargestellt wird, der sich großzügig gegenüber seinen Freunden verhält.
Diese menschenfreundliche Empathie, die in seinen Schriften immer wieder zu finden ist, äußert sich auch in der Grabrede, die Derrida noch selbst vorbereitet hatte: "Lächeln Sie mir zu, wie ich Ihnen bis zum Ende zugelächelt haben werde. Ziehen Sie immer das Leben vor und bejahen Sie stets das Überleben. Ich lächle Ihnen zu von dort aus, wo ich bin."
Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
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