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Europas Kleinteiligkeit als Chance

Trotz anhaltender Wirtschafts- und Finanzkrise hält der deutsche Politikwissenschaftler Walter Reese-Schäfer Europa für ein Erfolgsmodell. In einem Gastbeitrag verweist er auf die Wurzeln europäischer Werte und sieht gerade in der Kleinteiligkeit des Kontinents eine Chance.

E-Forum Alpbach 2013 26.07.2013

Die Wurzeln europäischer Werte

Von Walter Reese-Schäfer

Eurozentrismus als Standardvorwurf ist nicht nur geografisch gesehen eine Bizarrerie, denn in Wirklichkeit ist damit natürlich der menschenrechtliche Universalismus gemeint. Woher stammt dieser? Drei Quellen kommen in Betracht: die griechische und römische Antike, die christliche Religion des Mittelalters und die europäisch-amerikanische Aufklärung des 18. Jahrhunderts.

Über den Autor:

Porträtfoto des Politologen Walter Reese-Schäfer

Walter Reese-Schäfer

Walter Reese-Schäfer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Göttingen.

Veröffentlichungen u.a.: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, 2. Aufl. Wiesbaden 2012. Politische Ethik. Philosophie, Theorie, Regeln (mit Christian Mönter), Wiesbaden 2013; Das überforderte Selbst. Globalisierungsdruck und Verantwortungslast, Hamburg 2007. Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag Neudruck der 6. Aufl. 2013.

Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie der Gegenwart, Politische Ethik im europäisch-amerikanischen Diskurs, Transkulturelle politische Theorie.

Seminare beim Forum Alpbach:

Beim Europäischen Forum Alpbach 2013 leitet Reese-Schäfer gemeinsam mit Rajeev Bhargava das Seminar "Wurzeln europäischer Werte" (13.- 28.8.2013). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

Ö1-Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2013 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Bei näherem Hinsehen in einer interkulturellen Perspektivierung zeigt sich sehr bald, dass die ägyptisch-orientalischen Wurzeln der griechischen Mathematik und Rationalität unübersehbar sind, dass die römische Organisationsform den gesamten Mittelmeerraum umgriffen hat, dass nicht bloß die Ursprünge, sondern auch die konkrete Gestalt des christlichen Textkorpus bis hin zu Paulus orientalischen Ursprungs ist ("von Jesse kam die Art").

Und auch dass die Aufklärung mit ihren Chinoiserien und Bougainvilleschen Reisen nicht bloß in der Wirkung und Ausstrahlung, sondern auch in dem, was sie rezipiert und in teils enthusiastischer Zustimmung verarbeitet hat, weit über den längst zu eng gewordenen europäischen Raum hinausgegriffen hat.

Ein Tourismuspark mit Originaleinwohnern?

Aber benötigen wir überhaupt diese Wurzeldiskussion? Zahnwurzelbehandlungen dienen dazu, ganz tief verborgene Entzündungsherde abzutöten, um den Preis, den ganzen Zahn auszuhöhlen und absterben zu lassen, ihn allerdings der äußeren Form nach zu konservieren, indem man ihn mit Zement füllt. Schaut man auf Venedig und die übrigen überfüllten europäischen Kreuzfahrtziele, so scheint dies das Zukunftsschicksal der europäischen Kultur zu sein: ein Tourismuspark mit Originaleinwohnern von geradezu kontinentalem Ausmaß mit Italien, der weltweit dichtesten Ansammlung von Premium-Kulturgütern, als Avantgarde.

Die europäische Kultur reicht weit über die Jahrtausende zurück. Das aber, was wir jenseits der herausragenden Bauensembles Italiens als charakteristische europäische Stadt wahrnehmen, ist von Riga bis Paris, von Stockholm bis Barcelona, vor allem und in erster Linie ein Produkt der Belle Époque, Jahrzehnte vor der europäischen Katastrophe von 1914.

Sie sind überall ähnlich und wiedererkennbar auf geradezu frappierende Weise: Die grandiosen Stadtquartiere, die nicht einmal in Mitteleuropa vollkommen ausradiert werden konnten, sind das Ergebnis, und damit kommen wir zum Kern der europäischen Identität, einer Phase offener Grenzen und ökonomischer Prosperität, einer jahrzehntelangen Friedenszeit, wie wir sie erst wieder seit dem Ende des Kalten Krieges erleben - mit vergleichbaren Effekten der Belebung des Alltagslebens, der Lebenswertwerdung einer städtischen Umwelt, die nicht bloß in architektonischen Werken, sondern vor allem auch in der tagtäglichen Lebensqualität der Luftreinheit, der Versorgung mit den nötigen Gütern und, nicht zuletzt, auch des Sich-Kümmerns um die Armen (wenn auch leider nicht unbedingt um die Allerärmsten und die Exkludierten) sich zeigt.

Erfolg durch Kleinteiligkeit

Erst in den letzten Jahren ist Europa wieder zu dem einheitlichen Wirtschaftsraum geworden, besser vernetzt noch und mit weniger Zöllen behaftet als in der Belle Époque, mit sieben Prozent der Weltbevölkerung, mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts seit 2000 von 3,2 Prozent, und damit leicht höher als in den USA mit ihren drei Prozent, und in der Wirtschaftsleistung immer noch vor den USA, China und Japan.

Das Geheimnis der kulturellen und architektonischen Schönheit, die die Touristen aus Asien und anderswo bestaunen, ist schon seit der Antike, erneut seit dem späten Mittelalter mit seinen Kathedralen und ökonomisch produktiven freien Reichs- und Handelsstädten von Venedig über Lübeck bis Riga und Nowgorod durch harte Arbeit und unternehmerischen Wagemut gewonnener Reichtum, der sich mit glänzenden und originären künstlerischen Gestaltungsfähigkeiten verbunden hat.

Konkurrierender Wettbewerb, gegenseitige Überbietung, weitreichender Individualismus und vor allem dessen Anerkennung und Wertschätzung dürften die mentale Grundlage der Bewunderung sein, die Europa von außen erfährt. Unsere Wirtschaftshistoriker sehen die Quelle des Erfolgs gerade in der konkurrenzfördernden europäischen Kleinteiligkeit, während die Bildung von Großreichen und Großorganisationen eher die Initiative zu lähmen geeignet ist. Müssen wir uns an dieser Stelle Sorgen machen, dass es gerade die erfolgreiche wirtschaftliche und politische Integration der EU sein wird, welche die Antriebsmomente des europäischen Erfolgs ruiniert?

Wirtschaft als Basis für Schönheit der Kultur

Schon Max Weber fürchtete, dass nach dem Ende der protestantischen Arbeitsethik, die er als Wurzel des europäischen Aufschwungs identifiziert hatte, nunmehr eine Epoche des selbstlaufenden Stillstands eintreten würde. Als funktionales Äquivalent der konkurrierenden Kleinteiligkeit kommt nun allerdings die Konkurrenz in globalisiertem Maßstab ins Spiel, die trotz aller südeuropäischen Krisenerscheinungen und Momente des behaglichem Abschlaffens in erborgtem Reichtum die Dynamik in Gang zu halten scheint, wenigstens in den prosperierenden Ländern des Nordens.

Der ökonomische Erfolg bleibt eine wesentliche Grundlage aller kulturellen Schönheit - hier hatten Marx und die Basis-Überbau-Theoretiker der klassischen Ökonomie wohl Recht. Bloßer Reichtum ohne kulturelle Überformung und ohne kulturellen Anspruch scheint jedoch nicht ganz ausreichend zu sein. Ein Gestaltungswille und kultureller Hintergrund muss hinzukommen.

Innovation ist eben auch ein ideelles Element und scheint gerade auch von der Variation kultureller Traditionalitäten beflügelt zu werden. Das perfekte Handwerk, einst für Nürnberg, Toledo oder Solingen charakteristisch, aber traditionell schon seit Ewigkeiten, längst vor der Industrialisierung und der Öffnung zur Welt in den Zentren Japans und Chinas beheimatet, hat nie genügt: Es muss in der Lage sein, mit neuartigen Produkten neuartige Bedürfnisse zu schaffen und zu befriedigen.

Europa wird der Krise trotzen

Auch wenn zu den Standardformeln der europäischen Diskussion die Behauptung gehört, man hätte das Integrationsprojekt vielleicht lieber mit der Kultur beginnen sollen: Kultur ohne radikale Innovationsbereitschaft und ohne damit verbundene und davon ausgehende unternehmerische Dynamik wird nicht genügen. Man kann das nur bedingt lehren, wohl aber anregen und vermitteln.

Entscheidend wird es sein, ob die europäischen Regulierungen und Regularien hierzu neue Freiräume schaffen, ob Firmengründungen ohne übergroßen bürokratischen Aufwand möglich sind, ob die Umlenkung von ökonomischen Aktivitäten auf neue Themen und Ziele funktioniert oder durch subventionierte und überregulierten Beharrungsmomente behindert wird. Die europäischen Länder werden ihr kulturelles Höhenkammniveau nur halten können, wenn sie in den weltweit vergleichenden Skalen wirtschaftlicher Freiheit einige Punkte zulegen.

Und die gegenwärtige Eurokrise? Wie jede Krise, die nicht richtig behandelt wird, kann sie zum Exitus führen. Gerade jetzt zeigt sich aber, dass die europäische Kleinteiligkeit und Vielfalt zahlreiche Modelle zur Überwindung liefert. Länder wie Estland, Lettland und Litauen zeigen, welche Anstrengungen nicht nur möglich sind, sondern auch in relativ rasche Erfolge münden.

Spanien und selbst Frankreich orientieren sich nun doch wieder zunehmend an den ökonomischen Erfolgsmustern weiter im Norden. Vor allem aber: In den europäischen Städten, in den Kommunen wie Bilbao, Ostberlin oder Riga zeigen aufstrebende und attraktive Stadtviertel neue Verwirklichungsformen der europäischen Trinität von Geist, ökonomischer Prosperität und kultureller Schönheit.

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