Wie dieses Phänomen zu deuten ist, analysiert die Kunsthistorikerin Natalie Lettner in einem Gastbeitrag.
Teufel und Monster in der Gegenwartskunst

Natalie Lettner
Natalie Lettner arbeitet seit 2000 im Kunsthistorischen Museum in Wien, war 2004 Visiting Scholar am Bard College in New York und lehrt seit 2013 an der Webster University Vienna. Ihre Arbeitsgebiete sind die Kunstgeschichte und die Kulturwissenschaft, insbesondere die Schnittstellen zwischen prämoderner und zeitgenössischer Kunst sowie zwischen der sogenannten Hoch- und Populärkultur. 2014 erscheint ihre umfangreiche Studie "Bilder des Bösen?" zu traditionellen Ikonografien des Bösen in der zeitgenössischen Kunst.
Seminare beim Forum Alpbach:
Lettner leitet gemeinsam mit Michael Schulz beim Europäischen Forum Alpbach 2013 das Seminar "Das Böse in der Kunst" (13.-18.8.2013). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
Weitere Alpbach-Gastbeiträge:
Ö1-Hinweise:
Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2013 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.
Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.
Von Natalie Lettner
Hannah Arendt war 1945 davon ausgegangen, dass aufgrund der Schoa das Problem des Bösen die fundamentale intellektuelle Frage im Nachkriegseuropa sein würde. Sie sollte sich irren. Gerade im Zusammenhang mit dem durch die NS-Ideologie propagierten Schwarz-Weiß-Denken, das in den Massenmord geführt hatte, hielt man den Begriff des Bösen - wenig überraschend - für belastet. Nicht zu unrecht wurde er verdächtigt, eine dualistische Weltsicht zu implizieren, in der einem eindeutigen Bösen ein nicht minder eindeutiges Gutes gegenübersteht.
Renaissance des Bösen
Dies sollte sich jedoch maßgeblich ändern, und zwar im Kielwasser der apokalyptischen Endzeitphantasien rund um die zweite Jahrtausendwende. Die aufklärungskritischen oder sogar antiaufklärerischen Tendenzen der Postmoderne begünstigten eine neue Sicht auf das Böse. Ein Übriges tat die konservative Wende der 1980er Jahre, die nicht zuletzt eine neue Lust am Irrationalen und spätestens seit dem 11. September 2001 eine neue Kultur der Angst („Culture of Fear“) mit sich brachte.
Es lässt sich geradezu von einer Renaissance des Bösen sprechen, die von den einen als positiv und befreiend begrüßt und von den anderen als marktkonform und antiaufklärerisch kritisiert wird. Die Anzahl der in den letzten 25 Jahren erschienenen Publikationen zum Problem des Bösen ist tatsächlich erstaunlich.
Alte Bilder
Auch in der bildenden Kunst erreichte dieses Phänomen in den letzten 25 Jahren einen neuen Höhepunkt. Bilder des Bösen tauchen zunehmend in Galerien, Biennalen und Kunsträumen aller Art auf. Die Künstler und Künstlerinnen bedienen sich dabei aus einem formen- und farbenreichen Bilderpool, dessen Wurzeln weit zurück in die Kunstgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit reichen. Die neuen Bilder des Bösen sind tief verankert in der westlichen christlichen Ikonografie.
Obwohl das Böse eine abstrakte Kategorie ist, hatte sich die europäische Kunst und Kultur bei seiner Darstellung nicht schwer getan. Die abendländische Bilderwelt ist voller Teufel, Dämonen, Hexen, Drachen und anderer Ungeheuer - handfester Personifikationen des Übels also. Diese europäische Bildtradition wirkt in der Gegenwartskunst und in den Medien der Populärkultur bis heute fort.
Subversive Absichten
Die zentrale Frage dabei: Welche Funktionen können diese traditionellen Bilder des Bösen in der Kunst des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts übernehmen? Verkörpern sie immer noch das Böse? Häufig ist die Absicht subversiv: Es geht darum, die alten Ikonografien des Bösen zu dekonstruieren, zu parodieren oder zu invertieren, um sie für feministische, postkoloniale oder auch aufklärungskritische Agenden zu nützen.
In vielen Fällen stellt sich allerdings die Frage, inwieweit das faktische Ergebnis diesen Absichten auch entspricht. Eine genaue Analyse der einzelnen künstlerischen Positionen kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Denn oft genug überwiegt die Affirmation traditioneller Vorstellungen des Bösen gegenüber deren Dekonstruktion, und nicht selten lässt das Spektakelhafte die behauptete Ambiguität in den Hintergrund treten.
Diabolische oder dionysische Sexualität?
Zunächst ein frühes Beispiel aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren: Der US-amerikanische Fotograf Robert Mapplethorpe hat sich in seinen Selbstporträts immer wieder als Teufel inszeniert. Er verknüpfte das Dämonische nicht nur mit seiner Homosexualität, sondern auch mit der besonders tabuisierten Variante des Sadomasochismus.
Beides sind Aspekte, die in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bildern des Teufels angelegt sind: Vaginale Fratzen anstelle des Penis machen ihn zu einer geschlechtlich ambivalenten Figur, und die traditionellen Höllenbilder präsentieren sich als eine Mischung aus Folterkeller und sexueller Orgie. Mapplethorpe erinnert auch daran, dass die Wurzeln des "europäischen Standardteufels" mit Bocksfuß, Hörnern und Schwanz auf den Satyr der griechischen Mythologie zurückgeht, und verdeutlicht damit das Dionysische und Rauschhafte des Teuflischen.
Rebellischer Teufel
Bei Mapplethorpe wird der Teufel also zur positiven Identifikationsfigur und - ähnlich wie in der Romantik - zum Vorbild für die Rebellion gegen gesellschaftliche und politische Repression. Mapplethorpe gelingt es damit zwar, ein stereotypes dämonisiertes Schwulenbild zu demaskieren, aber paradoxerweise nicht ohne es gleichzeitig zu befördern.
Denn häufig impliziert die Dekonstruktion eines Stereotyps auch seine Rekonstruktion und damit Bestätigung. So überrascht es nicht, dass ausgerechnet konservative Christen in den USA Mapplethorpes Bilder für ihre Anti-Homosexuellen-Kampagnen verwendeten.
Böse Mädchen...
Im 13. Jahrhundert taucht erstmals eine interessante Variante zur Sündenfallikonografie auf: Die Schlange, die Eva den Apfel reicht, ist mit einem Frauenkopf ausgestattet, um das Dämonische des Weiblichen und insbesondere der weiblichen Sexualität zu unterstreichen - eine über Jahrhunderte zentrale Botschaft des Christentums. Diese Figur der frauenköpfigen Schlange, die sich unter anderem in Michelangelos Sixtinischer Kapelle findet, greifen zahlreiche zeitgenössische Künstlerinnen auf.
Auch hier geht es darum, ein Stereotyp - in diesem Fall ein frauenfeindliches - mithilfe dieses Stereotyps selbst auszuhebeln. Der Ansatz entspricht dem feministischen Projekt, böse Frauenfiguren der patriarchalen Vergangenheit in neue Kontexte zu stellen und zu positiven Figuren umzuwerten - ganz nach dem Motto: Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen überall hin.
...brave Monster
Bei der US-amerikanischen Künstlerin Kiki Smith wird die frauenköpfige Schlange zu einer mädchenartigen Kreatur mit faltigem Gesicht, in der alle Gegensätze zwischen Tier und Mensch, Alter und Jugend sowie Gut und Böse in einer feministischen Heilungsvision aufgelöst sind.
Smith gelingt es damit, die Paradiesschlange zu entdämonisieren. Dabei neutralisiert sie aber nicht nur das Böse, sondern auch das Erotisch-Sexuelle des Weiblichen, indem sie es ins Kindliche regredieren lässt. Ihre Schlange ist harmlos, entsexualisiert, einsam und auch ein wenig hilflos: also letztlich wieder ein braves Mädchen. Das Bad Girl ist über den Umweg von Kiki Smiths Heilungsutopie wieder zum Good Girl geworden.
Apokalyptische Bio-Chimären
Die australische Künstlerin Patricia Piccinini kreiert spektakuläre hyperrealistische Skulpturen, in denen die menschliche und tierische DNA miteinander gekreuzt zu sein scheint. Ihr geht es um die ethische Frage, wie sich die Menschheit gegenüber etwaigen monströsen Mutationen verhalten wird, die als unerwünschte Folgen biowissenschaftlicher Experimente entstehen könnten. Ihre Kreaturen lösen ein breites Spektrum an Emotionen aus - von Ekel über Rührung und Neugier bis zum Voyeurismus.
Wie die sogenannten Monstergeburten der Neuzeit, die vor Gottes Zorn warnen sollten, künden ihre Chimären von den Folgen biotechnologischer Eingriffe. Dabei reproduziert die Künstlerin nicht nur dämonische Bilder, sondern lässt auch Erinnerungen an die sensationsheischende Freakshows wach werden, die sich vor allem im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten.
Das heißt, es gelingt Künstlerinnen und Künstlern durchaus neue Facetten der alten Personifikationen des Bösen sichtbar zu machen. Dennoch erweist es sich in vielen Fällen als schwierig, den mit diesen traditionellen Bildern verknüpften repressiven Inhalten zu entkommen.