Standort: science.ORF.at / Meldung: "Wirtschaft: "Die Einheitslösung gibt es nicht""

Wirtschaft: "Die Einheitslösung gibt es nicht"

Weniger Vorurteile, mehr experimentelle Fakten: Martin G. Kocher umreißt in einem Gastbeitrag, wie moderne Wirtschaftspolitik aussehen könnte. Der österreichische Ökonom plädiert für eine stärkere "Evidenzbasierung" im wirtschaftlichen Metier.

E-Forum Alpbach 06.08.2013

Ökonomie 2.0 - Evidenzbasierte Wirtschaftspolitik

Von Martin G. Kocher

Ökonominnen und Ökonomen haben derzeit nicht den besten Ruf – zu Recht. Einige Vertreter der Profession vermitteln manchmal den Eindruck, dass es möglich ist, Bruttosozialprodukt, Inflation oder Arbeitslosigkeit bis auf die Kommastelle genau vorherzusagen, oder dass es nur die eine korrekte Antwort auf entscheidende wirtschaftspolitische Fragen gibt.

Martin G. Kocher

Ludwig-Maximilians-Universität München

Martin G. Kocher ist Professor für Verhaltensökonomik und experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität München. Forschungsinteressen: Kollektive Entscheidungen, Konflikt vs. Kooperation, Sportökonomik, Evaluation.

Seminare beim Forum Alpbach:

Kocher leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2013 mit Hartmut Kliemt das Seminar "Das nicht-rationale Verhalten von Individuen: Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik" (13.-18.8.2013). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

Weitere Alpbach-Gastbeiträge:

Ö1-Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2013 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Dabei beschäftigt sich nur ein recht kleiner Teil der Ökonominnen und Ökonomen mit der Vorhersage von makroökonomischen Aggregaten, und dieser wäre gut beraten immer wieder zu betonen, dass Vorhersagen, die über sechs bis neun Monate hinausgehen, extrem unsicher sind. Schwer bis unmöglich ist es daher auch, den Zeitpunkt von Krisen punktgenau zu prognostizieren, selbst wenn man die grundsätzlichen Anzeichen von Marktübertreibungen gut beschreiben konnte und kann.

Ein viel größerer Teil der Ökonomen interessiert sich aber vor allem für das Verständnis von individuellem ökonomischem Verhalten. Nur wenn dieses noch besser verstanden wird, ist es letztlich möglich, belastbare Vorhersagen auf makroökonomischer Ebene zu machen.

Falsche Annahmen

Wenn es um das Verständnis von individuellem ökonomischem Verhalten und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen für die optimale Wirtschaftspolitik bzw. die optimale Anreizsetzung geht, griffen viele Ökonominnen und Ökonomen bis vor kurzem auf Modelle zurück, die zwar mathematisch schön sind, aber auf den falschen Grundannahmen von menschlichem Verhalten beruhen.

Diese falschen Annahmen sind jene, die dem Modell des Homo oeconomicus entspringen, dem perfekt rationalen, egoistischen Entscheidungsfinder.

Das Modell des Homo oeconomicus war aus historischer Sicht einer der Hauptgründe für den Siegeszug der Ökonomie unter den Sozialwissenschaften. Es ist einfach und erlaubt, komplizierte soziale Phänomene zu beschreiben, und das auf Basis eines einheitlichen und konsistenten Paradigmas. In einigen Fällen spielt es im Aggregat auch tatsächlich keine Rolle, ob menschliche Entscheidungsfinder rational sind oder eben begrenzt rational, ob sie egoistisch sind oder eben altruistisch.

Aber in vielen ökonomisch relevanten Fällen ist es extrem wichtig, die zugrundeliegenden Annahmen des Modells des Homo oeconomicus aufzugeben bzw. anzupassen; z.B. um zu verstehen, wie Menschen tatsächlich auf Anreizsysteme reagieren, welche Mechanismen Menschen kooperativer und vertrauensvoller machen, welche kleinen Hilfen Menschen willensstärker machen oder wie Sanktionssysteme wirken.

Ideologien müssen sich der Empirie stellen

Das klingt nicht nach Ökonomie? Die Ökonomie als Wissenschaft geht tatsächlich weit darüber hinaus, zum Beispiel Notenbankzinssätze vorzugeben oder den Goldpreis vorherzusagen.

Das klingt nicht nach Wirtschaftspolitik? Umgekehrt, beim Verständnis von individuellen ökonomischen Entscheidungen geht es um den Kern der Wirtschaftspolitik, um die richtigen Anreize für Haushalte zu sparen oder zu investieren, um die richtige Anreizsetzung im Gesundheitssystem, im Bildungssystem oder im Pensionssystem, um die subjektive Wahrnehmung der Gerechtigkeit von Steuer- und Sozialsystemen, um die Ausgestaltung von öffentlichen Regelungen und Gesetzen und vieles andere mehr.

Die moderne Ökonomie wurde in den letzten zehn bis 20 Jahren nicht nur "psychologischer", sondern auch und vor allem stärker evidenzbasiert. Ideologiegefärbte Analysen, die zum Beispiel unter den Begriffen "Ordnungspolitik" oder "Ordoliberalismus" firmieren, sind nicht per se falsch oder schlecht. Sie müssen sich aber in jedem Fall empirischen Erkenntnissen stellen und dürfen nicht zu Glaubenssätzen werden.

Noch nie gab es so gute Daten über ökonomische Entscheidungen wie heute. Sie stammen sowohl aus dem Feld als auch aus Laborexperimenten. Und noch nie gab es so gute statistische und ökonometrische Methoden, um die Daten auch korrekt interpretieren zu können. Mittlerweile wissen wir: Ein Mindestlohn kann die Arbeitslosigkeit erhöhen, muss es aber nicht immer. Sparen in Zeiten der Rezession kann gut, aber auch schlecht sein – es hängt von den Erwartungen der Betroffenen ab. Oder, in vielen Fällen sind Belohnungen erwünschten Verhaltens besser als Bestrafungen negativen Verhaltens.

Kleine Interventionen mit großer Wirkung

Die Wirtschaftspolitik und die Anreizsetzung durch die öffentliche Hand werden durch diese Erkenntnisse natürlich etwas komplexer. Es gibt kein "one size fits all". Menschen und Situationen sind unterschiedlich, und obwohl es generelle Schlussfolgerungen für die optimale Ausgestaltung von Institutionen, Regeln und Anreizen gibt, sind diese nicht unabhängig von anderen Einflussfaktoren.

Auch kein Mediziner würde bei einer Krankheit immer die gleiche Medizin verschreiben, egal ob es sich beim Kranken um ein Kind, eine Frau, einen Mann, jemandem mit Vor- bzw. Parallelerkrankungen oder jemandem mit Unverträglichkeiten handelt.

Trotzdem helfen oft schon ganz einfache Interventionen, um signifikante Verbesserungen herbeizuführen. Die Verfügbarkeit von Spenderorganen ist deshalb in Österreich um vieles besser als in Deutschland, weil man sich in Österreich extra eintragen lassen muss, um kein Spender zu sein, wohingegen man in Deutschland extra bekanntgeben muss, ein Spender sein zu wollen. Selbst bei sehr weitreichenden Entscheidungen über Ausbildung oder Pensionsvorsorge spielen oft Kleinigkeiten eine große Rolle.

Das betrifft auch und insbesondere die soziale Durchlässigkeit einer Gesellschaft. Komplizierte Einschulungsformulare bzw. Formulare zur Beantragung von Förderungen schrecken zum Beispiel vor allem die Eltern von Kindern aus bildungsfernen Schichten ab, mit langfristig negativen Folgen für die betroffenen Kinder.

Experten beraten Politiker

In den USA, im Vereinigten Königreich und in Dänemark gibt es mittlerweile eigene Beratergremien, die direkt den Regierungschefs zuarbeiten. Diese Gremien versuchen, moderne Erkenntnisse aus der Wirtschaftswissenschaft und der Psychologie für wirtschaftspolitische Maßnahmen und für die Anreizsetzung im öffentlichen Bereich nutzbar zu machen. Österreich täte eine stärkere Evidenzbasierung von (wirtschafts-)politischen Maßnahmen auch gut.

Dabei bliebe noch genug Platz für ideologische Positionen der Parteien. Auch die beste Evidenzbasierung kann nämliche eine politische Prioritätensetzung nicht ersetzen, aber sie kann dazu beitragen, wirtschafts- oder gesellschaftspolitische Ziele möglichst effizient umzusetzen.

Mehr zu dem Thema: