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Statue: Justitia mit Waage in der linken Hand

Gerechte Gesellschaft gesucht

Das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie das Verbot von Folter und Sklaverei sind Prinzipien, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind. Anlässlich ihres 60-jährigen Bestehens zieht der österreichische Verfassungsrechtler Christoph Grabenwarter Bilanz.

E-Forum Alpbach 2013 09.08.2013

Die Konvention sei eine Erfolgsgeschichte europäischer Demokratien - gleichwohl eine, die an die gesellschaftlichen Umwälzungen angepasst werden müsse: Die notwendige Modernisierung wirft Grundsatzfragen auf.

Die Menschenrechtskonvention - eine "Sechzigerin"

Von Christoph Grabenwarter

Christoph Grabenwarter

Christoph Grabenwarter

Christoph Grabenwarter ist Professor für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Völkerrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Seminare beim Forum Alpbach:

Grabenwarter leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2013 mit Hartmut Kliemt das Seminar "Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Schutz und Entwicklung einer offenen Gesellschaft" (13.-18.8.2013). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

Weitere Alpbach-Gastbeiträge:

Ö1-Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2013 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

In wenigen Wochen, am 3. September 2013, feiert die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) das sechzigste Jubiläum ihres Inkrafttretens. Mitten in die Nachkriegswirren und den Kalten Krieg hineingeboren, ist die Idee internationaler Menschenrechte seither stets aktueller geworden und heute nicht mehr wegzudenken, freilich mit zum Teil radikalen Änderungen des Umfelds, in dem sie gelten.

So richtig erfolgreich sind internationale Menschenrechte bisher nur auf regionaler Ebene, und hier vor allem in Europa gewesen. Nur hier gibt es ein Gericht, das jährlich mit zunächst Dutzenden, dann hunderten und tausenden, heute zehntausenden Beschwerden von Menschen befasst ist, deren letzte juristische Hoffnung die Richter in Straßburg sind. Nur hier werden die Standards in das innerstaatliche Recht übernommen und in der Rechtspraxis der allermeisten der 47 Mitgliedstaaten auch weitgehend gelebt.

Mehr als 113.000 anhängige Beschwerden

Sechzig Jahre Menschenrechtskonvention sind sechzig Jahre Frieden in Europa, der an den Rändern im Südosten des Kontinents erst in den letzten Jahren errungen werden konnte. Sechzig Jahre, das ist immerhin das Dreifache jener Zeit, die zwischen den beiden Weltkriegen lag. Und doch mag keine rechte Jubelstimmung aufkommen. Das deutsche Justizministerium hat soeben eine eigene Festschrift herausgegeben, in der nicht wenige Beiträge auch auf die Probleme des Rechtschutzmechanismus aufmerksam machen.

Mehr als 113.000 anhängige Beschwerden sind zu viel, ein 15. Protokoll versucht mit der Verkürzung von Beschwerdefristen und der Verankerung des Grundsatzes der Subsidiarität eine Entlastung zu bringen, das ist aber bestenfalls der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

90er Jahre: "Osterweiterung" der Konvention

Teilt man die vergangenen 60 Jahre in drei Etappen, so kann man die ersten 20 Jahre als jene bezeichnen, in denen das System zu laufen begonnen hat. 1971 wurde der erste Fall gegen Österreich entschieden, er betraf die Freiheit der Person und faires Verfahren, das sechste Urteil des Gerichtshofes überhaupt. Zwanzig Jahre später, im Jahr 1993, ging die Zahl der Urteile bereits in die hunderte, die Rechtsprechungsmaschine hatte ihre Betriebstemperatur erreicht. Was aber noch viel wichtiger ist: Mit der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Polen waren die ersten Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts beigetreten, Russland folgte fünf Jahre später.

Die politischen Umwälzungen in Osteuropa in den 1990er haben die EMRK grundlegend verändert. 1998, im Jahr des Beitritts Russlands, nahm ein neuer ständiger Gerichtshof die Arbeit auf. Er erhöhte nicht nur die Schlagzahl, sondern nahm die Herausforderung an, die Menschenrechte nicht nur auf Rechtsstaaten anzuwenden, die in einer jahrzehnte-, teils jahrhundertelangen demokratischen Tradition gewachsen waren, sondern auf die so genannten "young democracies" im Osten des Kontinents.

Demokratische Gesellschaft: Was ist das?

"Necessary in a democratic society" – das ist ein zentrales Kriterium, das die Straßburger Menschenrechtsrichter zur Anwendung bringen müssen, wenn sie entscheiden müssen, ob die strafrechtliche Verurteilung einer Journalistin in Russland, die Anbringung von Schulkreuzen in italienischen Klassenzimmern, die Auflösung einer Demonstration in Ungarn oder die Ausweisung eines Ausländers aus Frankreich den Anforderungen der EMRK standhält. Was ist das für eine demokratische Gesellschaft, die hier die Leitlinie bildet?

Es ist keine uniforme – europäische – demokratische Gesellschaft, es ist nicht die demokratische Gesellschaft schlechthin, es ist eine demokratische Gesellschaft europäischer Prägung, ein Typus, der gewisse Mindestanforderungen erfüllt, die ein "europäisches" Erbe bilden, und im Statut des Europarates, in unzähligen Dokumenten europäischer Institutionen, vor allem aber in der EMRK selbst enthalten sind: Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit und nicht zu vergessen das Recht auf freie Wahlen in regelmäßigen Abständen.

Zwei Standards in Europa?

15 Jahre Praxis des neuen Gerichtshofes sind anderthalb Jahrzehnte Rechtsprechung zu unterschiedlichsten Demokratien. Wir können uns heute mit größerer Berechtigung denn je Fragen stellen, die eine Zwischenbilanz ermöglichen: Gibt es zwei Standards, einen für "Westeuropa" und einen für die ehemals kommunistischen Staaten?

Was gilt für Klein- und Kleinststaaten wie Liechtenstein, Monaco, Andorra, San Marino, aber auch Luxemburg, Montenegro und – bezogen auf die Einwohnerzahl auch – Island? Haben kulturelle Spezifika heute mehr Platz in der menschenrechtlichen Debatte als vor zwanzig Jahren? Welchen Einfluss haben die Ereignisse des 11. September langfristig auf den Menschenrechtsschutz gehabt?

Welche Rolle nimmt die Menschenrechtskonvention im Verhältnis zur Europäischen Union ein, die seit dem Vertrag von Lissabon eine eigene Charta der Grundrechte hat und die sich anschickt der EMRK beizutreten?

Menschenrechte weiterentwickeln

Der Straßburger Gerichtshof hat nach 1998 ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, kein Mitgliedstaat kann sich seither seiner Jurisdiktion entziehen. Neue, zum Teil wesentlich jüngere Richter mit begrenzterer Amtszeit und rund 150 spezialisierten Juristen aus ganz Europa in der Gerichtskanzlei entwickeln den Menschenrechtskatalog weiter, zumeist im konstruktiven Dialog mit den nationalen Höchstgerichten und Verfassungsgerichten.

Sie spannen den Bogen aber nicht selten bis an die Grenzen seiner Belastung, und gehen da und dort über das hinaus, was noch die Aufgabe eines internationalen Richters ist. Der britische Premierminister Cameron hat mit seiner Aufsehen erregenden Rede die interne Debatte über Europa und seine Menschenrechte nach Straßburg getragen, die diese Problematik betrifft.

Eine Straßburger Entscheidung, die Strafgefangenen auf der Insel ein weitergehendes Wahlrecht zugestand, hatte den politischen Zentralnerv des Mutterlands der parlamentarischen Demokratie getroffen. Es ist seither wieder viel vom Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten die Rede ("margin of appreciation"), vom Straßburger Gericht immer wieder betont (mitunter freilich als Lippenbekenntnis), nunmehr vorgesehen als ein neuer Erinnerungsposten in einer Ergänzung zur Präambel des Menschenrechtskataloges.

Vorreiter und Nachzügler

Hinter dieser Debatte steht mehr als ein vordergründiger Streit um Zuständigkeiten nationaler und internationaler Gerichte. Es geht um die Grundsatzfrage der Legitimation zur Setzung europäischer Standards, die nicht vom demokratisch legitimierten Verfassungsgesetzgeber geschaffen werden, sondern vom Richter, der die Verfassungsüberlieferungen aller Mitgliedstaaten zwar hilfsweise in der Interpretation berücksichtigt, aber eben auch die Rechtsentwicklung in allen Mitgliedstaaten heranzieht, um "zurückgebliebene" Staaten neuen Standards zu unterwerfen.

Resolutionen des Ministerkomitees oder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates fließen entscheidend in die Ermittlung der EMRK-Standards ein, ebenso wie Gutachten und Studien der Venice Commission, eines Expertengremiums, das längst schon über Europa hinauswirkt. Werte und Wertungen aus soft law und politischen Erklärungen werden transformiert und für den juristischen Diskurs nutzbar gemacht.

Debatten: Zivildienst, Homo-Ehe, politische Werbung

Wir sollten die Legitimation dieser Vorgangs an Hand konkreter Fragen diskutieren, die sich in Straßburg, aber auch in den Verfassungsgerichten gestellt haben und stellen: Wenn nur noch zwei Staaten keinen Zivildienst kennen, sind diese dann verpflichtet, ihn einzuführen, weil es alle anderen gemacht haben (obwohl Artikel 4 EMRK dies explizit noch als bloße Option formuliert)?

Kann ein bestimmtes Staat-Kirche-Modell bald Schule in allen Staaten machen? Ist die Öffnung des Instituts der Ehe für homosexuelle Paare in einigen Mitgliedstaaten Maßstab für die anderen? Muss Österreich Arbeit von Strafgefangenen bei der Pensionsversicherung berücksichtigen, weil es bereits ein Dutzend anderer Staaten tut? Muss Norwegen politische Werbung im Fernsehen zulassen, weil es in einem Drittel der Mitgliedstaaten politische TV-Spots gibt?

Ein Instrument wie die Menschenrechtskonvention, das einen so wertvollen Beitrag für alle Staaten Europas geleistet hat, muss unter geänderten Bedingungen weiterentwickelt werden. Eine informierte Fachdebatte, an der die allgemeine Öffentlichkeit und die Medien möglichst großen Anteil nehmen, wäre das Beste, was der EMRK zu ihrem 60. Geburtstag passieren könnte.

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