Kurios: Schon jetzt stehe die Frage im Raum, wer eines Tages die Nutzungsrechte an jenen Seen haben wird, die durch das Schmelzen der Gletscher entstehen werden, erklärt die Schweizer Umweltwissenschaftlerin im Interview mit science.ORF.at.

Dominique Wirz
Zur Person:
Astrid Björnsen Gurung ist Umwelt- und Naturwissenschaftlerin, seit 2003 ist sie bei der Mountain Research Initiative (MRI) tätig, einem globalen Netzwerk, das sich mit der weltweiten Koordination der Gebirgsforschung beschäftigt. Seit 2007 ist Astrid Björnsen-Gurung für das Europa-Programm der MRI zuständig. Dabei liegt der Schwerpunkt vor allem auf der strategischen Forschungsentwicklung und dem europäischen Netzwerkaufbau. Zudem gibt es seit 2011 ein Abkommen zwischen der Schweiz und Österreich, die "Allianz für Gebirgsforschung", im Rahmen derer man die zukünftige Gebirgsforschung der beiden Länder besser abstimmen will.
Technologiegespräche Alpbach:
Von 22. bis 24. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1-Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Die Zukunft der Innovation: Voraussetzungen - Erfahrungen - Werte".
Davor erscheinen in science.ORF.at Interviews mit den bei den Technologiegesprächen vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Astrid Björnsen Gurung wird am Arbeitskreis "Zukunftsraum Alpen: Fokus nachhaltige Ressourcennutzung" als Expertin teilnehmen.
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science.ORF.at: Welchen Stellenwert hat der Klimawandel in der Gebirgsforschung?
Einen sehr großen, und das liegt daran, dass die Forschungsförderung viel Geld für dieses Thema hergibt. Dabei verändert der Landschaftswandel - also die Art, wie der Gebirgsraum für Energiegewinnung, Landwirtschaft, Tourismus und Siedlungsflächen genutzt wird - den Gebirgsraum kurzfristig viel stärker als der Klimawandel. Auch wenn der jetzt noch das große Thema ist.
Wird denn der Forschungsbereich "Landschaftswandel" derzeit vernachlässigt?
Forschung zur Landnutzung wird nicht im gleichen Maße unterstützt wie jene zum Klimawandel. Aber gerade das Umschwenken auf erneuerbare Energien hat landschaftlich starke Auswirkungen. Wenn Kleinkraftwerke gefördert werden - in der Schweiz ist das inzwischen stark spürbar -, dann hat das auf die Gebirgsflüsse und auch im Mittelland kurzfristig sehr viel offensichtlichere Auswirkungen als der Klimawandel.
Diese kleinen Wasserkraftwerke verändern den Fischbesatz und das Pflanzenwachstum. Auch der Untergrund von Bächen wird durch Sedimente versiegelt, das heißt das Wasser kann nicht mehr versickern und einen Grundwasserfluss speisen, der wiederum für die Wasserversorgung wichtig wäre.
Hier spielt die Wissenschaft eine wichtige Rolle: Sie muss Informationen vorlegen, die zeigen, wie hoch die Kosten für das Ökosystem sind, wenn man es so macht. Und den Gedanken einbringen, dass es vielleicht besser wäre, sich auf einige große Wasserkraftwerke im Hochgebirge zu konzentrieren. Aber es sind starke Kräfte, die da am Wirken sind.
Zeigen nicht gerade Beispiele wie dieses, dass es die Politik schaffen müsste, längerfristig zu planen und in viel größeren Zeiträumen zu denken?
Das Reaktorunglück in Fukushima hat vieles ausgelöst. Die Politik war gezwungen sofort zu handeln. Ohne dass klar war, woher die erneuerbare Energie eigentlich genommen werden soll. Wer jetzt schon in die Zukunft plant, sind die Betreiber der großen Wasserkraftwerke. Weil sie ihre Investitionen planen wollen, besteht großes Interesse daran abzuschätzen, wie viel Wasser wir im Jahr 2050 oder am Ende des Jahrhunderts noch haben werden. Im Rahmen eines Schweizer Wasserprojekts, an dem ich mitarbeite, gab es eine Studie zur Schnittstelle Gletscherschwund, Wasserverfügbarkeit und Wasserkraft.
Die Studie sagt voraus, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts die meisten Gletscher in der Schweiz verschwunden sein werden - bis auf einige kleine Eisfelder. Dafür gibt es dann 500 bis 600 neue Gletscherseen, die man potenziell wieder für die Wasserkraft nutzen könnte. Und obwohl die noch nicht einmal existieren, kommt schon jetzt die Nutzungsfrage auf: Wer wird dann die Konzession haben, um diese Seen für Wasserkraft oder andere Zwecke zu nutzen? Das ist ein ganz anderer Zeithorizont.
Ist es nicht makaber, dass sich Menschen bzw. Unternehmen schon jetzt Gedanken darüber machen, wer die Nutzungsrechte an den entstehenden Seen haben wird, während wir zusehen, wie die Gletscher wegschmelzen?
Ich denke, es ist nicht makaber, es ist die Realität. Das ist eine Entwicklung, die mit Hilfe der vielen Modelle recht gut voraussehbar ist. Die naturwissenschaftlichen Belange sind insgesamt leichter zu modellieren als etwa der gesellschaftliche Wandel. Da lässt sich kaum jemand darauf ein, zu sagen, wie sich unsere Gesellschaft oder unser Energiekonsum entwickeln wird. Das ist sehr viel schwieriger vorauszusehen.
Wenn die Energieakteure diejenigen sind, die heute am stärksten in die Zukunft blicken: Nehmen diese bei ihrer Planung genug wissenschaftliche Expertise in Anspruch?
Ich denke schon. Sie sind diejenigen, die enorme Summen investieren und sicherstellen müssen, dass sie dann wieder Gewinne machen. Forschung wird ja nicht nur in den klassischen Forschungscommunities an den Universitäten und Hochschulen betrieben. Die Industrie forscht auch. In der Gebirgsforschung ist das allerdings eine marginale Randerscheinung. Am ehesten passiert das noch im Versicherungswesen, wenn es etwa um das Hochwasser geht. Wenn die Industrie ein stärkeres Interesse an unseren Themen hätte, hätten wir auch eine stärkere Lobby.
Das heißt, derzeit ist die Lobby der Gebirgsforschung zu schwach?
Auf europäischer Ebene, werden der Gebirgsforschung nur sehr geringe Beträge zugesprochen. Das hängt auch damit zusammen, dass die EU-Programme derzeit sehr stark auf Biotechnologie, Nanotechnologie und die Weltraumforschung fokussiert sind. Das schluckt viel größere Geldmassen als die Gebirgsforschung. Die Lobby dieser Forschungszweige ist sehr stark, weil die Industrie dahinter steht.
Forschende, die in der Gebirgsforschung tätig sind und auf ihrem Gebiet gut sein wollen, müssen ihre Zeit in die Forschung investieren. Dabei bleibt kaum Zeit, um sich für Lobbying, Workshops oder Informationsveranstaltungen für die Öffentlichkeit zu engagieren. Aber das ist die Richtung, in die sich die Forschung in Zukunft entwickeln sollte. Hinzu kommt, dass die Gebirgsforschung selbst eine neue Perspektive bräuchte.
Welche wäre das?
Momentan sind wir sehr stark im Systemwissen verhaftet: Wir sammeln Daten, beobachten, analysieren Prozesse und verstehen, wie die Dinge zusammenhängen. Aber beim Zielwissen sind wir schwach. Also zu definieren, wie wir das System in Zukunft sehen, was der Zustand ist, den wir erreichen wollen, wie wir dorthin kommen. Auf dieses Zielwissen und auf das folgende Transformationswissen, müsste viel mehr Gewicht gelegt werden. Deshalb müsste man auch forschungspolitisch die Finanzierungsprogramme darauf auslegen, dass ein Anreiz für diese andere Art der Forschung im Vordergrund steht.
Interview: Theresa Aigner, science.ORF.at
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