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Ein menschliches Gehirn

Ein letzter Tanz vor dem Hirntod

Sind Nahtoderfahrungen erklärbar? Ja, schreiben US-amerikanische Hirnforscher in einer aktuellen Studie. Steht das Gehirn nach einem Herzstillstand unter Sauerstoffmangel, versetzt das Neuronen offenbar in einen kollektiven Erregungszustand.

Neurobiologie 13.08.2013

Was Hieronymus Bosch auf seinem Bild "Der Flug zum Himmel" dargestellt hat, deckt sich mit vielen Berichten über Nahtoderfahrungen: Ein helles Licht erscheint am Horizont, bisweilen öffnet sich in der Himmelsdecke auch ein Tunnel zu einer anderen Welt, in den der Sterbende einzutreten beginnt. Die Erlebnisse sind real, manchmal sogar hyperreal: Als "wirklicher als die Wirklichkeit" würden sie Überlebende beschreiben, notierte der Nahtodforscher Michael Potts vor ein paar Jahren in einer Studie.

Ungefähr jeder fünfte Überlebende eines Herzstillstandes hatte laut Statistiken solche Erfahrungen. Berichte wie diese gibt es in allen Kulturen, nicht nur in der westlichen. Insofern könnte man davon ausgehen, dass das Ganze mehr als Einbildung ist. Nur: Neurologisch spricht manches dagegen. Wenn nach dem Herzstillstand der Sauerstoff knapp wird, sollten auch die Hirnströme zum Erliegen kommen. Und ohne Hirnströme verschwindet bekanntlich auch das Bewusstsein.

Plötzliche Erregungswelle

Die Studie:

"Surge of neurophysiological coherence and connectivity in the dying brain" von Jimo Borjigin und Kollegen ist am 12.8.2013 in den "Proceedings" der US-Akademie der Wissenschaften ("PNAS") erschienen.

George Mashour, Neurochirurg von der University of Michigan, hat nun versucht, diese Frage in einem etwas makabren Experiment zu klären, aus naheliegenden Gründen nicht bei Menschen, sondern bei Ratten, deren Gehirn in mancher Hinsicht dem unsrigen gleicht. Mashour und seine Kollegen lösten bei den Versuchstieren einen künstlichen Herzstillstand aus und untersuchten dann, was in ihrem Gehirn vor sich ging.

Wie die Forscher im Fachblatt "PNAS" schreiben, passierte rund 30 Sekunden nach dem Herzstillstand nichts Besonderes, dann begannen sich plötzlich Erregungswellen im Rattenhirn auszubreiten. "Wir waren überrascht über den hohen Grad der Aktivität", sagt Mashour. "Die elektrischen Signale waren in mancher Hinsicht stärker als im Wachzustand. Das zeigt, dass das Gehirn im Frühstadium des klinischen Todes sehr geordnete Erregungen hervorzubringen vermag."

"Charakteristisch für Bewusstsein"

Ö1-Sendungshinweis

Über diese Studie berichtet auch "Wissen aktuell", 13.8.2013, 13:55 Uhr.

Seine Kollegin Jimo Borjigin fügt an: "Der Abfall von Sauerstoff und Glukose kann das Gehirn offenbar stimulieren. Die Gehirnaktivität war charakteristisch für bewusste Wahrnehmungen." Inwieweit Ratten Bewusstsein besitzen - und falls ja: ob es dem unsrigen ähnelt -, kann die Studie naturgemäß nicht beantworten. Allerdings legen die Ergebnisse zumindest nahe, dass Analoges auch im menschlichen Gehirn vor sich gehen könnte.

Die von Mashour und seinem Team entdeckten Erregungswellen hatten übrigens eine Frequenz von mehr als 25 Hertz. Die Gammawellen sind wohlbekannt. Sie treten laut neurobiologischen Untersuchungen nicht nur im bewussten Wachzustand auf, sondern auch während der Meditation und im REM-Schlaf.

Eine naturwissenschaftliche Grundlage hätte das Phänomen somit erhalten - seine Deutung freilich bleibt Privatsache. Der britische Philosoph Alfred Jules Ayer etwa, bekannt für seine ebenso strenge Argumentation wie nüchterne Weltsicht, sah sich nach einer Nahtoderfahrung veranlasst, das große Ganze nochmals zu überdenken. "Ich sah eine göttliche Erscheinung. Ich fürchte, ich muss all meine Bücher und Meinungen revidieren."

Robert Czepel, science.ORF.at

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