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Menschen auf einem Flüchtlingsboot

Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen

Bis vor dem Ersten Weltkrieg waren Staatsgrenzen für die Migration in Europa unbedeutend. Die Grenze als Hürde und Mauer ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Die Literaturwissenschaftlerin Wiebke Sievers beschreibt in einem Gastbeitrag, wie dieser Wandel die deutschsprachige Literatur geprägt hat.

E-Forum Alpbach 16.08.2013

Europäische Migrationen in Literatur und Film

Von Wiebke Sievers

Wir kennen sie alle, die Bilder von Menschen in überfüllten Booten auf dem Weg über das Mittelmeer nach Europa. In diesen Bildern drücken sich die Ängste Europas vor einer Flut von afrikanischen Zuwanderern aus, gegen die es sich zu wappnen gilt. Und genau das hat die Europäische Union in ihrer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik versucht zu tun. Doch wie begründet sind diese Ängste?

Wiebke Sievers

Wiebke Sievers

Zur Person

Wiebke Sievers forscht am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist Leiterin des vom WWTF geförderten Projekts "Literature on the Move", das sich mit Migration und Literatur in Österreich beschäftigt.

Seminare beim Forum Alpbach:

Sievers leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2013 gemeinsam mit Werner Sollors das Seminar "Migrations- und Integrationserfahrungen: Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz" (13.-18.8.2013). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

Weitere Alpbach-Gastbeiträge:

Ö1-Hinweise:

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2013 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1-Clubs erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Dieser Frage geht Andrea Segres Dokumentarfilm A Sud di Lampedusa (Im Süden von Lampedusa) aus dem Jahr 2006 nach. Der Film begleitet Wanderarbeiter aus Nigeria, Mali und Burkina Faso auf ihrer äußerst beschwerlichen Reise in überfüllten Lastwagen durch die Sahara. Viele der Menschen, die in diesem Film zu Wort kommen, nennen als Ziel nicht Europa, sondern Libyen, das seit 1998 in subsaharischen Ländern um Arbeitskräfte warb. Trotz dieser aktiven Anwerbepolitik Gaddafis berichten viele von ihnen jedoch auch, schon zumindest einmal völlig unbegründet festgenommen und abgeschoben worden zu sein.

Dieses Paradox erklärt sich damit, dass Libyen im Jahr 2000 eine Vereinbarung mit Italien traf, in der es sich dazu verpflichtete, illegale Migration nach Europa zu bekämpfen. Doch wie sich zeigt, baute Italien damit nicht nur eine weitere Mauer um Europa, sondern es erschwerte den subsaharischen Wanderarbeitern auch den Weg nach Libyen.

Elias Canetti: Ein Leben in Bewegung

Dass es nicht immer so schwierig war, die Grenzen Europas zu überschreiten, zeigt Elias Canettis Autobiographie. Canetti wurde 1905 in Rustschuk geboren, wo "die übrige Welt" Europa hieß, wie er in seiner Charakterisierung dieses Ortes schreibt: "Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte."

Rustschuk lag zu dieser Zeit im Fürstentum Bulgarien, aber die Canettis waren wie die meisten Spaniolen in dieser Gegend aus Loyalität zum Osmanischen Reich, das sie nach ihrer Vertreibung aus Spanien um die Wende zum 15. Jahrhundert aufgenommen hatte, türkische Staatsbürger. Und als solcher zog Elias Canetti 1911 mit seiner Familie nach Manchester. Nach dem Tod seines Vaters übersiedelte er mit seiner Mutter und seinen Brüdern nach Wien. 1916 flüchtete die Familie vor dem Krieg in die Schweiz.

Die letzten drei Jahre seiner Schulzeit absolvierte er in Frankfurt, bevor er zum Studium wieder nach Wien zurückzukehrte. Der Prozess der Migration an sich scheint jedoch so wenig interessant, dass dieser in seiner Autobiographie kaum Erwähnung findet. Grenzen und Passkontrollen kommen nicht vor.

Und das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn Staatsgrenzen hatten für die Migration in Europa vor dem Ersten Weltkrieg kaum eine Bedeutung. Erst danach begannen die europäischen Nationalstaaten Kontrollsysteme für die Zuwanderung von Ausländern einzuführen, deren Grundlagen die Kontrolle von Zuwanderern zum Teil bis heute prägen.

"Die guten Stuben der Deutschen"

Heute gibt es für türkische Staatsbürger kaum noch Möglichkeiten, nach Europa einzuwandern. Aber in den 1960er und 1970er Jahren waren sie in Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Schweden als Arbeitskräfte willkommen.

Diesen schlossen sich auch türkische Intellektuelle an, darunter Aras Ören, der sich 1969 in Berlin ansiedelte und dort auch noch heute als Schriftsteller lebt. Ören drang schon 1973 in "die guten Stuben der Deutschen" ein, wie er es selbst später in einem Interview beschrieb. In diesem Jahr strahlte der Sender Freies Berlin seine Verfilmung seines Poems Was will Niyazi in der Naunynstraße aus, das im selben Jahr bei Rotbuch erschienen war.

Ganz im Zeichen der deutschen Studentenbewegung und beeinflusst von Nâzım Hikmet und Bertold Brecht illustriert Ören die Ausbeutung von zugewanderten Arbeitern in Deutschland. Ob sie aus Ostpreußen kamen oder wie Niyazi Gümüsciliç in den 1960er Jahren aus Istanbul, der Traum von Gleichheit erfüllte sich für sie nie.

Doch Ören belässt es nicht bei der Darstellung, er sieht es als seine Aufgabe, "künstlerische Utopien" erschaffen. Und so endet sein Text mit der Utopie von türkischen und griechischen Bewohnern der Naunynstraße, die gemeinsam mit ihren deutschen Nachbarn mit Bleistift und Papier um ihr Recht kämpfen.

Österreich: Wenig Migrantenliteratur

Nach solchen Texten sucht man in Österreich trotz einer vergleichbaren Migrationsgeschichte vergeblich. Zwar publizierten auch hier zu dieser Zeit vereinzelt Zuwanderer wie Milo Dor. Doch diese wurden nicht als solche wahrgenommen.

Und für jene, die zu dieser Zeit als Zuwanderer galten, eröffneten sich anders als in Deutschland keine Publikationsmöglichkeiten. Während in Deutschland eine Arbeiterliteratur florierte, die auch italienischen und türkischen Arbeitern Veröffentlichungsmöglichkeiten bot, rebellierte in Österreich die literarische Avantgarde, die mehrheitlich in der Bundesrepublik lebte und publizierte, gegen literarische Strukturen in Österreich, die teils noch aus der Zwischenkriegszeit stammten.

Im Zuge dessen entstanden neue Zeitschriften und Verlage für österreichische Literatur, die jedoch Zuwanderern gegenüber nur wenig offen waren, wie Stanislav Struhar in seinem Roman Eine Suche nach Glück (2005) dokumentiert. Erst Mitte der 1990er Jahre erschienen auch in Österreich vermehrt literarische Texte von Zuwanderern, was besonders Christa Stippingers Preis schreiben zwischen den kulturen zu verdanken ist, der österreichischen SchriftstellerInnen wie Dimitré Dinev oder Julya Rabinowich den Weg in die literarische Öffentlichkeit ebnete.

Staaten: Ausgrenzungsgebilde

Thema dieser Literatur ist unter anderem die zunehmende politische und gesellschaftliche Ausgrenzung von Fremden in Österreich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Im Zentrum stehen dabei oft Figuren, an denen sich die Folgen dieser Ausgrenzung am deutlichsten manifestieren: diejenigen, die die geltenden Gesetze zu Illegalen machen.

In seinem Roman Engelszungen (2003) schildert Dimitré Dinev in eindrücklichen Bildern, wie die immer strikter werdenden Gesetze diese Menschen auf das "nackte Leben" reduzieren, um mit Giorgio Agamben zu sprechen. Und doch beinhaltet auch dieser Roman eine "künstlerische Utopie". Diese findet sich nicht in einer anderen Politik, denn Dinev glaubt, dass Ausgrenzung den Nationalstaaten in ihrem Gründungsmoment eingeschrieben ist.

Auch dem Klassenkampf steht Dinev, der 1989 aus dem kommunistischen Bulgarien nach Österreich flüchtete, sehr skeptisch gegenüber. Er glaubt vielmehr an die "Macht des Einzelnen", die in seinem Roman Engelszungen die Österreicherin Nathalie verkörpert, die sich dem illegal in Wien lebenden Svetljo gegenüber menschlich verhält, die ihm zuhört und sich schließlich in ihn verliebt.

Endlich Wurzeln schlagen

Auch in anderen österreichischen Romanen zu diesem Thema wird Liebe zum Hoffnungsträger eines besseren Lebens, so in Vladimir Vertlibs Zwischenstationen (1999) oder in Doron Rabinovicis Ohnehin (2004). Doch schon bei Rabinovici wird diese Liebe als Flucht vor der Realität enttarnt.

Und in Julya Rabinowichs letztem Roman Die Erdfresserin aus dem Jahr 2012 verwandelt sich diese Utopie schließlich in eine Dystopie. Der Mann, an den sich Diana klammert, die in Wien als Prostituierte arbeitet, um die teuren Medikamente für ihren kranken Sohn in Russland finanzieren zu können, will mit seiner Beziehung zu ihr nur sein eigenes Karma aufbessern. Als er und damit ihre letzte Hoffnung stirbt, verliert Diana den Verstand und beginnt Erde zu fressen, ein letzter Versuch ihrerseits, sich irgendwo zu verwurzeln.

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