Und zwar zum Teil besser, als dies mit tierischen Modellen möglich sei, schreiben Jürgen Knoblich, Madeline Lancaster und Kollegen vom Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien in einer Studie.
Keine Frankenstein-Forschung
Jürgen Knoblich ist bewusst, dass Studien wie die aktuelle in der Öffentlichkeit mitunter kontrovers diskutiert werden. "Etwaigen Befürchtungen, dass wir hier Modellsysteme für Bewusstsein oder Denken schaffen könnten, kann ich getrost entgegenstehen", sagt der Stammzellenforscher gegenüber science.ORF.at. Wer die Bilder der Minihirne betrachtet, sehe sofort, dass "die Organisation der Zellen nicht einem ausgewachsenen, menschlichen Gehirn entspricht."
Dass es sich bei diesem Experiment um die Verwirklichung einer Frankenstein-Fantasie handelt, kann dementsprechend augeschlossen werden. Kognitive Vorgänge können in den Minihirnen aus zwei Gründen nicht stattfinden, erläutert Jürgen Knoblich: "Der eine ist, wir haben zwar gewisse Teile, die auch miteinander interagieren, aber das große Ganze fehlt. Und es ist klar, dass das gebraucht wird für höhere Hirnfunktionen. Und der zweite ist, es gibt keinen Input. Es gibt alte Experimente, die zeigen, dass es für die Ausbildung komplexer Schaltkreise in unserem Gehirn nötig ist, dass Input von Sinnesorganen vorhanden ist. Und der fehlt in unseren Organkultursystemen."
Die Studie:
"Cerebral organoids model human brain development and microcephaly" von Madeline Lancaster und Kollegen ist am 28.8. in "Nature" erschienen.
Ö1 Sendungshinweise:
Dem Thema widmen sich am 29.8. auch Beiträge im Mittagsjournal (12:00 Uhr) und den Dimensionen (19.05 Uhr).
Vergleich Minihirn-Maushirn

IMBA/Marko Repic und Madeline A. Lancaster
Vergleich von Organoid (unten) mit dem sich entwickelnden Gehirn einer Maus (oben): neuronale Stammzellen in rot, Neuronen in grün.
Im Bioreaktor hergestellt
Ausgangspunkt für die Versuche waren sowohl menschliche embryonale Stammzellen (ES) als auch induzierte pluripotente Stammzellen (iPS), die etwa aus menschlichen Hautzellen gewonnen und dann zu einer Art Stammzellen verjüngt werden. Beide können sich noch zu allen Zellen des menschlichen Körpers entwickeln.
Sie besitzen dabei eine enorme Fähigkeit zur Selbstorganisation. Das heißt, die Zellen lagern sich unter geeigneten Kulturbedingungen auch ohne Zugabe von Wachstumsförderern oder anderen Chemikalien zu dreidimensionalen Geweben zusammen.
Die Forscher nutzten diese Fähigkeit aus und ließen die Stammzellen ab einem bestimmten Entwicklungsstadium in einem sich drehenden Bioreaktor heranwachsen. Durch die Rotation wird die Nährstoffversorgung der Zellen verbessert.
Im Zeitraum von etwa zwei Monaten erreichten die Minihirne ihre endgültige Größe von bis zu vier Millimetern. Die Gewebe seien unbegrenzt lebensfähig, schreiben die Forscher. Einige lagerten bereits zehn Monate in den Reaktoren.
Erstaunliche Selbstorganisation
In den Minihirnen ("Organoide") bildeten sich komplexe Strukturen heraus, etwa sogenannte Signalzentren. "In der Organentwicklung spezialisieren sich bestimmte Regionen und schicken dann anderen Regionen Botenstoffe. Dadurch wissen die, wo vorne, hinten, oben und unten ist. Genau das scheint in den Organoiden auch abzulaufen", so Jürgen Knoblich, der stellvertretende IMBA-Direktor. Auch die Organisation der Großhirnrinde ("Cortex") sei in den Organoiden kaum unterscheidbar von der natürlichen embryonalen Gehirnentwicklung.
Die in den Reagenzgläsern heranwachsenden Organoide sind nicht alle gleich. Die Großhirnrinde entsteht immer, andere Organteile wie etwa der Hippocampus bilden sich relativ selten. Dennoch ist die Organisation der Minihirne erstaunlich. So bilden sie den oberen und unteren Teil der Großhirnrinde und selbst das Zusammenspiel zwischen den beiden Teilen läuft korrekt ab.

IMBA/Madeline A. Lancaster
In etwa zehn Prozent der Organoide bildet sich sogar Netzhautgewebe (Retina). Auf einem Bild in der "Nature"-Publikation wölbt sich - von der Form her bereits einem Augapfel ähnlich - die Anlage des Sehorgans mit dem Retina-Gewebe aus dem "Minihirn" (siehe braun pigmentierter Bereich im Bild oben).
Die drei Schichten, aus denen das zukünftige Auge in diesem Entwicklungsstadium besteht, sind dabei korrekt organisiert, betonte Jürgen Knoblich.
Komplett künstliches Gehirn unwahrscheinlich
In den Minihirnen können die Wissenschaftler Entwicklungsvorgänge, die bis zur neunten Schwangerschaftswoche stattfinden, nachvollziehen. Der limitierende Faktor ist die Ernährung des Gewebes, ab einer bestimmten Größe kommen die Nährstoffe nicht mehr ins Zentrum der Organoide. Im Unterschied zur natürlichen Embryonalentwicklung gibt es im Reagenzglas ja keine Blutgefäße.
Zwar ist Knoblich optimistisch, dass sich auch dieses Problem irgendwann überwinden lässt. "Aber, dass daraus ein Organmodell wird, das zu kognitiven Prozessen in der Lage ist, das kann man wohl ausschließen", sagt der Stammzellenforscher gegenüber science.ORF.at. "Es ist auch die Frage, ob das aus ethischen Gründen überhaupt wünschenswert wäre. Sollte ich so etwas untersuchen wollen, dann würde ich es einfach nicht mit dem Menschen, sondern mit Mauszellen machen, wo ich genau das auch tun kann."
Das Limit sei aber die "komplexe dreidimensionale Organisation - je weiter die Entwicklung geht, umso schwieriger wird es, diese Komplexität nachzubauen". Hier würde man schnell an einen Punkt kommen, wo es prinzipiell nicht mehr möglich sei, das in der Kultur nachzumachen.

IMBA/ Madeline A. Lancaster
Auch der renommierte deutsche Stammzellforscher Oliver Brüstle von der Universität Bonn schreibt in einem Begleitartikel in "Nature", dass "trotz der überzeugenden Daten" der Wiener Forscher ein "Gehirn in der Petrischale" außer Reichweite bleibt. Im Organoid seien etwa die verschiedenen, dem realen menschlichen Gehirn entsprechenden Regionen zufällig verteilt und würden nicht der räumlichen Organisation im Gehirn entsprechen.
Und dennoch: Die Organkultur bietet die einmalige Möglichkeit, die Aktivitäten der Nervenzellen und ihre Kommunikation in einer frühen Entwicklungsphase zu studieren. "Solche Modelle haben großes Potenzial für die Erforschung von Krankheiten und Entwicklung von Medikamenten", sagte Knoblich.
Beispiel Mikrozephalien
Weil sich die Übereinstimmung zwischen Kultur und tatsächlicher Gehirnentwicklung entscheidend verbessert habe, könne man die Ergebnisse der Versuche besser auf den Menschen übertragen. Zudem lasse sich damit die Zahl der Tierversuche verringern.
Die IMBA-Forscher haben die Organoide bereits als Modell für die Nachbildung von Gehirndefekten genutzt. "Erstmals konnten wir eine menschliche Erbkrankheit in einer solchen Gewebekultur modellieren", sagte Knoblich.
Im Mittelpunkt standen dabei sogenannte Mikrozephalien. Aufgrund eines Defekts in frühen Phasen der Gehirnentwicklung kommt es dabei üblicherweise zu einer geistigen Behinderung aufgrund eines deutlich zu kleinen Gehirns. Im Mausmodell führen dieselben Gendefekte allerdings nicht zu denselben Krankheitsbildern wie im Menschen. Mit ihrem neuen Modellsystem konnten die Wiener Wissenschaftler Mikrozephalien aus menschlichen Stammzellen erfolgreich in der Kultur nachstellen.
"In Zukunft möchten wir auch andere Krankheiten, die mit entwicklungsbiologischen Störungen des Gehirns in Zusammenhang stehen könnten, etwa Autismus oder Schizophrenie, in der Kultur nachbauen und erforschen“, sagte Knoblich.
science.ORF.at/APA/dpa