Martin Karplus wurde 1930 in Wien geboren und als Kind jüdischer Eltern 1938 aus Wien vertrieben. Damit teilt er seine Kindheitsgeschichte mit dem Chemie-Nobelpreisträger 1998, Walter Kohn, und dem Medizin-Nobelpreisträger 2000, Eric Kandel.
Sie und viele andere Vertriebene waren in der Wissenschaft erfolgreicher als andere vergleichbare Kinder. Ein Grund dafür ist ihr kulturelles Kapital, ihre schulische Bildung und bildungsbürgerliche Herkunft, wie Christian Fleck von der Universität Graz erklärt.
science.ORF.at: Darf sich Österreich rühmen, dass "wir wieder einen Nobelpreisträger haben"?
Christian Fleck: Nein. Jemanden zu vereinnahmen, nur weil er in Österreich geboren wurde, ist völlig absurd. Und bei jemandem wie Karplus, der 1938 vertrieben wurde, geradezu skandalös.
Autobiografie Martin Karplus:
- "Spinach on the Ceiling: A Theoretical Chemist's Return to Biology", Annual Review of Biophysics and Biomolecular Structure (pdf-Datei)
Links:
- Martin Karplus, Harvard University
- Martin Karplus, nobelprize.org
- Nobelpreis
- Nobelpreis für Chemie, Wikipedia
Ö1-Sendungshinweis
Ö1 Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 10.10., 13:55 Uhr.
Dennoch gingen einige Politikerreaktionen in diese Richtung …
Politiker können in der Situation fast nur falsch reagieren. Wenn sie schweigen, würde man das als Ignoranz gegenüber der Wissenschaft auslegen. Wenn sie Karplus als österreichischer Repräsentant gratulieren, wirkt es so, als ob sie ihn für Österreich vereinnahmen möchten.
Ist Karplus' Geschichte typisch für Österreich?
Für seine Altersgruppe ja. Es gibt eine Reihe aus Österreich vertriebener Kinder und Jugendlicher, die später v.a. in Großbritannien und den USA sehr erfolgreiche Karrieren gemacht haben. Einer von ihnen, der in Harvard lehrende Wissenschaftshistoriker Gerald Holton hat das Phänomen vor einigen Jahren gemeinsam mit Gerhard Sonnert sehr umfangreich untersucht. Sie haben herausgefunden, dass die vertriebenen Juden gegenüber allen vergleichbaren Gruppen beruflich viel erfolgreicher waren, egal ob in der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Politik. Das ist ziemlich überraschend, weil diese Kinder praktisch mit nichts aus Österreich geflohen sind. Was sie mitgenommen haben, ist kulturelles Kapital - sie haben also familiäre, teilweise auch schulische Prägungen erfahren, auf denen sie ihre Karrieren aufgebaut haben.
Welche Eigenschaften oder Fertigkeiten sind das konkret?
Um keine Missverständnisse zu erzeugen: Es handelt sich dabei immer um Eigenschaften, die auf Gruppenebene feststellbar sind. Das vorausgesetzt, sind es drei Faktoren, die Holton und Sonnert hervorheben. Erstens ein bildungsbürgerlicher Hintergrund: Wie viele andere stammt Karplus aus einer bildungsbürgerlichen Familie, über mehrere Generationen waren das Wissenschaftler, Bildungsbürger, Universitätsangehörige.
Das zweite - was für Karplus weniger zutrifft, weil er bei seiner Flucht zu jung war - ist die damalige Schulbildung. Es ist für die etwas Älteren dieser Gruppe auffällig, dass sie oft von einem Lehrer berichten, der sie stark beeinflusst hat - so wie etwa der Chemienobelpreisträger Walter Kohn. Es kommt vermutlich auch noch hinzu, dass Karplus ein ausgezeichnetes Deutsch spricht, obwohl er den überwiegenden Teil seines Lebens in englischsprachigen Ländern gelebt hat. Das deutet auf einen dritten Faktor hin: die Aufrechterhaltung eines bestimmten kulturellen Milieus in der familiären Kommunikation - damit gehen Vorlieben für bestimmte europäische Kulturgüter einher, etwa für Literatur und Musik.
Karplus schreibt in seiner autobiografischen Erinnerungen auch, dass die Flucht selbst wichtig war für seine wissenschaftliche Arbeit. Ist das ein wiederkehrendes Motiv?
Aus den Interviews mit betroffenen Naturwissenschaftlern habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie, wenn sie diese traumatische Erfahrung überwinden konnten - bei vielen war das ja nicht der Fall -, die Flucht als Stachel wahrgenommen haben. Sie wollten danach beweisen, dass sie es trotz der widrigen Umstände gut und besser können: sich selbst oder ihren - zum Teil ermordeten - Eltern gleichsam als Geschenk. Und es wird auch eine Rolle gespielt haben, dass sie es jenen beweisen wollten, die sie einst vertrieben haben.
Die Nazis haben den Krieg vor 70 Jahren verloren, dennoch wirken sie noch immer auf die Wissenschaft in Österreich ein. Wie konnte das geschehen?
Die Vertreibung des jüdischen Bildungsbürgertums hat dazu geführt, dass andere in ihre Positionen nachrücken konnten. Es wurde nicht nur ihre Wohnungen und Kunstgegenstände gestohlen, sondern auch ihre Berufspositionen. Und weil sich Universitäten nur relativ langsam verändern, wirkt sich das fast bis heute noch aus. In der NS-Zeit sind damals junge Männer in die Unis gekommen, mit einer "akademischen Lebenserwartung" von rund 30 Jahren. Sie sind erst Anfang der 70er Jahre in den Ruhestand gegangen. In diesen 30 Jahren haben sie Schüler produziert, die ihnen weltanschaulich und politisch oft ähnelten. Diese sind um das Jahr 2000 in Pension gegangen, d.h. wir sind immer noch in der Enkelgeneration derer, die durch akademische Arisierung in den Universitätsbetrieb gekommen sind. Es gibt einzelne Fälle von Professuren und Instituten, wo man das genau nachweisen kann: Die Stellen dort wurden über den ganzen langen Zeitraum von der gleichen Burschenschaft abgedeckt.
Das politische ist das eine, aber warum sind diese Menschen offenbar auch wissenschaftlich schlechter?
Wenn sie nur deshalb Professuren erhalten haben, weil sie "rassisch" oder politisch auf der richtigen Seite standen, war ihr Impetus, wissenschaftliche Leistungen hervorzubringen, relativ gering. In Österreich wurden in den 50er und 60er Jahren - aber auch noch in den 70er Jahren unter sozialdemokratischer Alleinregierung - nicht jene befördert, die durch wissenschaftliche Leistungen aufgefallen sind, sondern die sozial gut vernetzt waren.
Auch das schließt nicht aus, dass darunter ein, zwei exzellente Wissenschaftler sind, die auch einmal wieder einen Nobelpreis gewinnen …
Dass in Österreich tätige Forscher schon lange keinen Nobelpreis gewonnen haben, liegt auch an anderen Faktoren. Erstens gibt es diese ein, zwei Wissenschaftler, die knapp dran sind und den Großteil ihrer Karriere in Österreich verbracht haben. Außerdem ist der Nobelpreis kein reiner Leistungswettbewerb, sondern hat auch etwas von einer Schönheitskonkurrenz. Die Nobelpreisakten sind nach 50 Jahren zugänglich, daher weiß man, wie die Auswahl abläuft, und es ist nicht anzunehmen, dass sich daran bis heute viel geändert hat. Ganz wichtig ist z.B. der "Matthäus-Effekt", der besagt: Denen, die schon haben, wird gegeben. Und "haben" bedeutet heutzutage, dass man an einer der führenden Universitäten tätig ist, und nicht an einer österreichischen. Diesen Startvorteil muss man berücksichtigen. Ansonsten ist die Ausstattung unserer Unis mit wenigen Ausnahmen international nicht konkurrenzfähig.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
Die wissenschaftlichen Nobelpreise 2013: