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Zwei Passanten mit Regenschirm

"Prekarisierung betrifft alle"

Keine Anstellung, kein Kollektivvertrag, keine gewerkschaftliche Vertretung - am Beginn der Wertschöpfungsketten steht immer öfter prekäre Arbeit, sagt der Soziologe Jörg Flecker. Diese Prekarisierung betrifft mittlerweile auch hochqualifizierte Arbeitsbereiche.

Soziologie 14.10.2013

Es entsteht eine ganze "Zone der Verwundbarkeit" - ein Begriff, der auf den französischen Soziologen Robert Castel zurückgeht. Die Folgen für die "stabil" Beschäftigten - also jene Menschen in Normalarbeitsverhältnissen, die unbefristet, ganztags und voll sozialversichert arbeiten - werden immer deutlicher, analysiert Jörg Flecker im Interview mit science.ORF.at.

Durch Auslagerungen, Angst um den Arbeitsplatz und eine zunehmend geforderte Flexibilisierung geraten immer mehr Menschen in eine unsichere Situation, erklärt der Sozialwissenschaftler anlässlich seiner Antrittsvorlesung an der Uni Wien.

science.ORF.at: Bereits im 19. Jahrhundert wurde über die "soziale Frage" diskutiert, über die "working poor", also voll Erwerbstätige, die trotzdem Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen. Wann nimmt der gegenwärtige Prekarisierungsprozess seinen Anfang?

Jörg Flecker, Soziologe

Universität Wien

Jörg Flecker ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Wien. Davor war er von 1991 bis 2013 wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) in Wien. Am Montag, den 14. Oktober, hält er seine Antrittsvorlesung an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien zum Thema "Wie Arbeit degradiert wird. Perspektiven auf die Prekarisierung von Erwerbsarbeit".

Jörg Flecker: Historisch lässt sich diese Prekarisierung grob in drei Phasen einteilen. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat, die sogenannte Lohnarbeitsgesellschaft, wurde nach dem Ende des 2. Weltkriegs bis in die 1970er Jahre ausgebaut. Zumindest für Männer galt in dieser Phase das Normalarbeitsverhältnis. Die, die gearbeitet haben, bekamen viele Möglichkeiten der sozialen Teilhabe und waren sozial integriert in die Gesellschaft.

Mit den 1980er Jahren beginnen sich diese Strukturen aufzulösen. Es gibt weniger kollektive Absicherungen und mehr Einzelverträge. Die atypische Beschäftigung nimmt zu, darunter fallen die geringfügige Beschäftigung, die Teilzeitarbeit, freie Dienstnehmer, Kettenverträge, Leih- oder Zeitarbeit. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit.

Mit der Auflösung der Sowjet Union und dem Fall des Eisernen Vorhangs kommt es ab Anfang der 1990er zu einer Verschärfung neoliberaler Politik der Privatisierung und Deregulierung. Und ab 2008 wird diese Entwicklung durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise und insbesondere die Krisenpolitik noch einmal beschleunigt.

Sie beziehen sich in ihrer Arbeit unter anderem auf Robert Castel und die "Zone der Verwundbarkeit". In wie weit werden die Betroffenen denn "verwundbarer"?

Individuell betrachtet, meint Prekarisierung auch eine Veränderung des Lebensverlaufs, die zu einem sozialen Abstieg führt und zunehmende Verwundbarkeit bedeutet. Das heißt, immer niedrigere Einkommen, weniger Sozialschutz, aber auch abnehmende Sozialkontakte. Die Betroffenen rutschen immer tiefer in diese unhaltbare Lebenssituation, in der das Planen immer schwieriger wird: das Mithalten beim Konsum wird schwierig bis unmöglich und ungeregelte Arbeitszeiten verlangen eine hohe zeitliche Flexibilität.

Die Planung von größeren Konsumausgaben ist für prekär Lebenden also nahezu unmöglich. Hat dieser Umstand Folgen für die Wirtschaft?

Die Arbeitslosigkeit und die Prekarisierung sind definitiv nicht im Interesse der Wirtschaft. Die Nachfrage ist schwach. Die letzten Prognosen sagen, der Export wird anziehen, das wird Wirtschaftswachstum bringen, aber die Binnennachfrage wird niedrig bleiben. Das geht ganz klar auf ungünstige Verteilungsrelationen zurück. Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Und damit fallen die, die einen großen Teil ihres Einkommens konsumieren, für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage aus.

Welche Branchen sind am stärksten von der Prekarisierung betroffen?

Dazu gehört beispielsweise das Reinigungsgewerbe, die Gastwirtschaft oder das Baugewerbe. Mittlerweile ist aber auch der hochqualifizierte Bereich betroffen, etwa in der Kreativwirtschaft, in der Wissenschaft und in den Medien. Dort gibt es eine Spaltung in die dauerhaft, sicher Angestellten und die selbstständig oder kurzfristig Beschäftigten.

Insgesamt haben sich die Wertschöpfungsketten verändert. "Auslagerungen" stehen in vielen Bereichen auf der Tagesordnung. Durch die Auslagerungen von Erwerbsarbeit aus öffentlichen Organisationen, aus den Großunternehmen in der Industrie oder aus den Banken ist es erst möglich geworden aus Kollektivverträgen rauszugehen und in Arbeitsmarktbereiche hineinzugehen, wo man niedrig bezahlte Arbeitsplätze anbieten kann. In diesem Sinn wird die Arbeit degradiert. Es gibt hier eine starke Dynamik: Die Unternehmen haben Subauftragnehmer und diese Subauftragnehmer haben wiederrum Subauftragnehmer, und so geht es weiter bis in den informellen Bereich der Schwarzarbeit. Dort herrschen höchst problematische Bedingungen, was in den öffentlichen Organisationen oder in den Großunternehmen, die an der Spitze dieser Kette stehen, nicht möglich wäre. Denn in diesen Unternehmen gibt es eine gewerkschaftliche Vertretung und Kollektivverträge und es wird sichergestellt, dass die arbeitsrechtlichen Bestimmungen eingehalten werden.

Neue Kommunikationstechnologien haben die Arbeitswelt in den letzten Jahren maßgeblich verändert, allen voran das Internet. Gibt es auch in diesem Zusammenhang Veränderungen, die mit der Prekarisierung zusammenhängen?

Die internetgestützte Arbeit hat die Wertschöpfungsketten auch verändert und zu Auslagerungen geführt. Damit sind nicht mehr nur die klassischen Produktionsbereiche von Auslagerungen betroffen, sondern auch Dienstleistungen oder Kreativarbeit. Im Großen und Ganzen alles, was digital erledigt werden kann. Hier gibt es starke Bewegungen in Richtung "Crowdsourcing", dass Arbeit global ausgeschrieben wird. Als Auftraggeber kann man einen weltweiten Arbeitsmarkt nutzen. Dann konkurrieren Leute aus Indonesien mit US-Amerikanern, Österreicher mit Arbeitnehmern von den Philippinen. Es ist zu erwarten, dass Standards, die heute noch gelten, unterlaufen werden. In diesem Teilbereich der Wirtschaft verschärft sich dieses Phänomen der "Auslagerungen" noch einmal.

Gibt es Bevölkerungsgruppen, die stärker von der Prekarisierung betroffen sind, als andere?

Frauen sind stärker betroffen und auch ethnische Unterschiede schlagen sich stark nieder. Durch Diskriminierung und auch durch ihren aufenthaltsrechtlichen Status finden viele Migranten und Migrantinnen nur in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten Arbeit. Oder sie sind gezwungen, undokumentiert im informellen Bereich zu arbeiten, weil sie gar keine Arbeitserlaubnis erhalten. Dadurch sind sie stärker von prekären Arbeits- und Lebenssituationen betroffen als andere Bevölkerungsgruppen.

Durch die Ethnisierung wird die gesamtgesellschaftliche Entwicklung aber auch kaschiert. Die allgemeine Empörung bleibt aus, weil sich ein Großteil der Bevölkerung nicht betroffen fühlt. Ein gutes Beispiel sind hier die Betreuer und Betreuerinnen in der 24-Stundenpflege. Für sie wurde bei der Legalisierung ihrer Tätigkeit im Gesetz eine eigene Kategorie geschaffen. Das wäre nicht denkbar gewesen, wenn es Arbeitskräfte aus Niederösterreich, der Steiermark oder Wien betroffen hätte. Aber für Pflegende aus der Slowakei, Ungarn, der Ukraine oder Rumänien erscheint die Regelung als angemessen.

Warum ist es gerade in den prekären Bereichen des Arbeitsmarktes so schwierig, sich arbeitsrechtlich zu organisieren?

Ein Kennzeichen prekärer Arbeit ist ja gerade, dass es keine Vertretung gibt oder wenn, dann nur eine sehr schwache Interessensvertretung. Dadurch können gesellschaftliche Standards und Normen von Arbeitsbedingungen unterschritten werden, weil es keine kollektive Handhabe gibt.

Hier wird auch wieder deutlich: In den Kernunternehmen oder im öffentlichen Dienst gibt es eine gute Vertretung. Und je weiter man die Wertschöpfungsketten zurückgeht, zu den Subunternehmern, den Dienstleistern, der migrantischen Ökonomie, dort wird die Vertretung typischer Weise immer schwächer.

Ihre Antrittsvorlesung trägt den Titel "Wie Arbeit degradiert wird". Geht diese Herabwürdigung über finanzielle und rechtliche Verschlechterungen im Erwerbsleben hinaus?

Neben der materiellen Dimensionen und der sozialen Absicherung, geht es auch um symbolische Aspekte, um Fragen des Status, des Sozialprestiges und der gesellschaftlichen Wertschätzung. Auch sie nehmen ab. Darunter leiden aber auch Grundlagen für die Selbstachtung der Menschen. Das heißt, die Prekarisierung beeinflusst die Teilhabe an der Gesellschaft in einem sehr umfassenden Sinn.

Geht es hier auch um politische Teilhabe?

Auf einer formalen Ebene kommt es zunächst zu keinen Einschränkungen, die politischen Rechte bleiben natürlich die gleichen. Entweder man hat sie oder nicht, so wie Migranten und Migrantinnen, unabhängig von der Arbeitssituation.
Aber es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Prekarisierung und dem Ausmaß an politischer Teilhabe: Wenn man damit beschäftigt ist, über die Runden zu kommen, mit völliger Unsicherheit in der Planung, mit Schulden, dann ist auch keine Zeit und keine Energie mehr da, sich politisch zu engagieren, sich zu organisieren etc. Es fängt einfach damit an, dass man nicht weiß, ob man am nächsten Dienstag zu einer Besprechung gehen kann oder ob man in drei Wochen einen Job hat oder nicht. Das kollektive Leben, das soziale Leben und auch das politische Engagement werden auf diese Weise stark beschränkt.

Interview: Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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