science.ORF.at: Herr Hilbe, wenn mich meine Nachbarin um einen halben Liter Milch bittet, schenke ich ihr die Milch selbstverständlich, sofern ich eine zu Hause habe. Warum tue ich das?
Christian Hilbe: Davon abgesehen, dass ein halber Liter Milch kein großer Verlust sein mag: weil es ein Vorteil ist, eine gute Hausgemeinschaft zu haben. Früher oder später könnten sie die Milch wieder zurückbekommen. Außerdem tun sie durch diese Hilfeleistung auch etwas für Ihren guten Ruf.
Gegenleistungen und guter Ruf sind letztlich ökonomische Begründungen. Könnte es nicht sein, dass ich die Milch deswegen hergebe, weil ich mich dadurch besser fühle?
Doch, das könnte sehr wohl so sein. Nur verschiebt das meiner Meinung nach nur das Problem.
Inwiefern?

Christian Hilbe
Zur Person
Christian Hilbe hat an der Universität Wien Mathematik studiert, bei Karl Sigmund über ein spieltheoretisches Thema dissertiert und forscht seit 2011 als Post-Doc am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön. Forschungsinteressen: Anwendungen der Spieltheorie in der Biologie und Ökonomie.
Der Mensch hat im Laufe der Zeit Heuristiken entwickelt, um nicht über alles und jedes nachdenken zu müssen. Über die Milch müssen Sie nicht nachdenken, Sie geben sie einfach her. Untersuchungen zeigen: Wenn Menschen gezwungen sind, schnell zu reagieren, handeln sie meistens uneigennützig. Der Eigennutz entsteht erst nach längerem Nachdenken.
Der Mensch ist auf Kooperation gepolt?
Der Mensch ist die kooperativste Spezies, die wir kennen - es gibt keine Tierart, die im gleichen Maße zur Zusammenarbeit neigt.
Warum ist das so?
Da gibt es mehrere Erklärungsansätze. Etwa die Theorie der Verwandtenselektion, die vor 50 Jahren vom britischen Biologen Bill Hamilton formuliert wurde. Sie besagt in Kurzfassung: Tiere helfen vor allem nahe Verwandten, weil diese zum Teil die gleichen Gene im Erbgut tragen. Das fördert - indirekt - auch den Fortpflanzungserfolg des Helfers. Wenn mein Bruder oder meine Schwester viele Kinder hat, wird auch ein Teil meiner Gene an die nächste Generation weitergegeben.
Gilt das auch für den Menschen?
Es spielt auch bei uns eine Rolle, aber nur eine untergeordnete. Der zweite Grund ist der bereits erwähnte gute Ruf: Er führt dazu, dass ich in Zukunft einen Nutzen von meinem freigiebigen Verhalten erwarten kann. Der dritte Grund: Die Menschheit ist im Gegensatz zu anderen Arten in der Lage, ihre eigenen Regeln aufzustellen. Normen und Gesetze zwingen uns auch ein bisschen, kooperativ zu sein.
So gesehen ist es erstaunlich, dass die Menschheitsgeschichte von Kriegen und Konflikten geprägt ist.
Es mag vielleicht komisch klingen: Aber Untersuchungen zufolge könnten kriegerische Konflikte im Lauf der Geschichte tatsächlich abgenommen haben. Falls das nicht zutrifft, könnte das daran liegen, dass wir noch keine Institution gefunden haben, die weltweit für Normen sorgt. Wir sind in gewisser Hinsicht in den Nationalstaaten gefangen. Staaten können natürlich auch egoistisch handeln.
Wäre eine Weltregierung wünschenswert?
In Bezug auf den Frieden sicher. Aber es wird wohl unmöglich sein, so etwas durchzusetzen. Denn mächtige Staaten würden diesem Machtverlust wohl kaum zustimmen. Das ist so ähnlich wie bei den Klimaverhandlungen: Hier können sich die Akteure offenbar auch nicht auf einen weltweit gültigen Plan einigen.
Büßt der Mensch seine kooperative Haltung in größeren Zusammenschlüssen - etwa in anonymen Gesellschaften - wieder ein Stück weit ein?
Der Zusammenschluss ist ein zweischneidiges Schwert. Innerhalb der Gruppe nützt er der Kooperation, außerhalb dessen schadet er und lässt neue Rivalitäten entstehen. Ressentiments und Vorurteile sind ein Ausdruck dieser Tendenz.
Sie untersuchen das Verhalten des Menschen mit Hilfe spieltheoretischer Modelle. Lässt sich das Verhalten des Menschen in ein mathematisches Schema pressen?
Jein. Nehmen wir etwa das sogenannte Gefangenendilemma. Das ist ein extrem vereinfachtes Modell, das folgenden Sachverhalt einzufangen versucht: Kooperation ist für alle von Nutzen, sie kann aber durch Egoismus von einzelnen untergraben werden. Unter diesen Voraussetzungen können wir Rechnungen anstellen. Müssten wir die reale Gesellschaft beschreiben, wäre das sehr, sehr schwierig. Ich denke schon, dass man aus dem Gefangenendilemma gewisse Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen kann. Aber ich bin mir natürlich bewusst: Das Modell ist nicht alles.
Worüber geben ihre Berechnungen Auskunft: über die Natur oder die Kultur des Menschen?
Ob das menschliche Verhalten angeboren oder erlernt ist, können wir noch nicht mit Sicherheit sagen. Zumindest zeigen Versuche an Kleinkindern, dass der Mensch bereits sehr früh einen Sinn für Kooperation besitzt, deutlich stärker als Menschenaffen in diesem Alter. Ich persönlich glaube aber, dass die Kultur einen sehr großen Einfluss hat.
Wurden solche spieltheoretische Experimente auch in anderen Kulturkreisen durchgeführt?
Ja, und es ergaben sich bemerkenswerte Unterschiede im Vergleich zu unserer Kultur.
Und zwar?
Ein Beispiel, das mich sehr fasziniert, betrifft das sogenannte Ultimatumspiel. Das Prinzip: Zwei Spieler kommen zusammen, der erste erhält Geld, sagen wir: 100 Euro. Er muss den Betrag zwischen sich und dem anderen aufteilen. Damit das Geld tatsächlich an beide ausbezahlt wird, muss der zweite Spieler jedoch seine Zustimmung geben. Sonst ist das Geld futsch. Das passiert dann, wenn Spieler eins zu eigennützig ist und zu wenig von den 100 Euro hergibt. Angebote von 30 bis 50 Euro werden in westlichen Ländern in der Regel angenommen. Stammemitglieder der Au und der Gnau aus Papua Neu-Guinea lehnen hingegen sogar 70 Euro ab!
Warum?
Weil in dieser Kultur die Norm verankert ist: Wenn ich ein solches Geschenk annehme, verpflichte ich mich, dem Geschenkgeber irgendwann später einen ähnlichen Gefallen zu tun. Wann genau, kann der Geschenkgeber bestimmen. Diese Pflicht wollen viele nicht haben, daher lehnen Sie ab.
Wir groß muss oder darf eine Gruppe sein, damit Kooperation funktioniert?
Das hängt stark von der Aufgabe ab. Denken Sie an Gruppenarbeiten: Zu zweit funktioniert es gut, zu dritt ebenfalls, zu viert ist es noch ok. Wenn es mehr werden, kommen irgendwann Trittbrettfahrer hinzu. Also solche, die von der Arbeit der anderen profitieren, aber selbst nichts dazu beitragen.
Wie kann man das verhindern?
Einerseits über die Reputation: Wenn ich weiß, jemand spielt immer mit falschen Karten, dann werde ich ihn gar nicht zur Gruppenarbeit einladen.
Was in größeren Gemeinschaften nicht immer funktioniert.
Stimmt, hier braucht es Regeln und Institutionen, die Verstöße gegen diese Regeln ahnden.
Also zum Beispiel Kontrolleure, die Fahrscheine in der U-Bahn überprüfen.
Genau.
Sind Sie schon einmal Schwarzgefahren?
Zugegebenermaßen: ja. Als ich zu Beginn meines Studiums in Wien das erste Mal am Westbahnhof ankam, fuhr ich zwei Stationen ohne Ticket - und wurde prompt erwischt.
Interview: Robert Czepel, science.ORF.at
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