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Panda

Evolution: "Es wird weitergewurstelt"

Seit 3,8 Milliarden Jahren existiert Leben auf der Erde. Die Wege der Naturgeschichte verliefen oft unvorhersehbar und verschlungen. Das gilt, wie neue Untersuchungen zeigen, sogar für die Entwicklung von Molekülen. Eine Bilanz.

Der Daumen des Panda 23.10.2013

"Da ich schon in meiner Kindheit einen Bären aus Stoff besaß, den ich mit etwas Glück auf einem Jahrmarkt gewonnen hatte, war ich hocherfreut, als die ersten Früchte des Tauwetters zwischen USA und China über die Ping-Pong-Politik hinausgingen und zwei Pandas an den Zoo von Washington geschickt wurden. Ich ging hin und beobachtete die Tiere mit der nötigen Ehrfurcht."

Dieses Kindheitserlebnis inspirierte Stephen Jay Gould, einen der großen Evolutionstheoretiker des 20. Jahrhunderts, anno 1980 zur Niederschrift des Essays "Der Daumen des Panda". Waren Tiere und Pflanzen früher oft als perfekt angepasste Wesen dargestellt worden, in denen jedes Organ einen klar umrissenen Zweck hat, votierte Gould in seinem Aufsatz für eine andere Sicht: Nicht die ideale Konstruktion ist es, die in der Natur vorherrscht, sondern die Improvisation, das Umständliche, die kreative Zweckentfremdung.

Der Daumen des Panda - oder besser gesagt: der zweite Daumen des Panda ist ein schönes Beispiel für dieses Prinzip. Zwei Daumen? Hat der Panda sechs Finger? Nicht wirklich: Der zweite Daumen, mit dem der Panda die Bambuspflanze geschickt zerlegt, ist tatsächlich nur ein extrem verlängerter Knochen namens "radiales Sesambein".

Bei den anderen Säugetieren führt das Sesambein im Handgelenk eine äußerst unscheinbare Existenz, nur beim Panda wurde es - durch eine aufwändige Umbildung - in einen völlig neuen Dienst gestellt.

Anpassung mit Verspätung

Literatur

Stephen Jay Gould: "Der Daumen des Panda - Betrachtungen zur Naturgeschichte", aus dem Amerikanischen von Klaus Laermann; Suhrkamp Verlag: 2009, ISBN-10 3518283898

Daniel C. Dennett: Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens, aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel; Hoffmann und Campe 1997, ISBN-10 3455085458

Nadja Podbregar, Dieter Lohmann: Strategien der Evolution: Geniale Anpassungen und folgenreiche Fehltritte, Springer Spektrum 2013, ISBN-10 3642326749

Andreas Wagner: The Origins Of Evolutionary Innovations: A Theory of Transformative Change in Living Systems, Oxford University Press 2011, ISBN-10 0199692602

Wäre es nicht praktischer gewesen, den echten Daumen für den feinen Griff auf den Bambus zu optimieren? Im Prinzip ja, aber die Raubtieranatomie des Panda ließ es offenbar nicht zu. So musste eine etwas umständliche Lösung her. "Der Sesambein-Daumen gewinnt keinen Preis bei einem Ingenieurswettbewerb", resümierte Gould in seinem Essay. Dem Panda wird es egal sein. Sein kurioser Zweitdaumen leistet ihm gute Dienste.

Gould nannte überraschende Anpassungen, die durch Umbauten des Vorhandenen entstehen, "Exaptationen". Davon gibt es viele, und man muss nicht zu exotischen Tierarten reisen, um sie zu finden. Es genügt ein Griff ans - Ohr:

Die Gehörknochen des Menschen sind fein gedrechselt. Aber zum Hören sind sie, wie Evolutionsbiologen und Anatomen berichten, nicht entstanden. Sie waren einst Kieferbögen von Fischen. Ähnliches gilt für deren Schwimmblase: Sie war ihrem Ursprung nach keineswegs ein Organ für den Druckausgleich, sondern einst eine Lunge. Und der Stachel der Biene entstand aus einem Eilegeapparat, zur Waffe wurde er erst durch nachträgliche Umbauten - mithin der Grund, warum männliche Bienen nicht stechen können.

"Ein Bastler, kein Ingenieur"

Wie sagte François Jacob so schön? "Die Evolution ist ein Bastler, kein Ingenieur." Der Wiener Wissenschaftstheoretiker Franz Wuketits formuliert es etwas radikaler: "Die Evolution ist ein gewaltiges Pfuschwerk. Man sollte Darwins Satz vom 'Überleben des Tauglichsten' umformulieren zu: gerade noch tauglich." In der Tat ist die pragmatische Verfahrensweise der Evolution verantwortlich für so manche Fehlkonstruktion. Viele Organe funktionieren oft nicht wegen, sondern trotz ihres eigentümlichen Aufbaus.

Ein Klassiker in dieser Hinsicht: das Linsenauge. Es wurde von der Evolution zweimal unabhängig erfunden. Einmal bei den Wirbeltieren, das andere Mal bei den Weichtieren. Das Auge des Menschen und das Auge des Tintenfisches sehen einander ähnlich. Sehr ähnlich sogar. Aber In ihrem Inneren gibt es einen bedeutenden Unterschied.

Fehlkonstruktion Auge

Während nämlich die Photorezeptoren des Tintenfisches in Richtung Licht schauen, sind die unsrigen vom Licht abgewandt. Man könnte es auch so ausdrücken: Bei uns ist der Film verkehrt eingelegt. In unserer Netzhaut sind die Nervenableitungen dem Licht zugewandt und müssen im Bündel wieder in die korrekte Richtung - zum Hirn - geführt werden.

Der blinde Fleck ist die unvermeidbare Konsequenz dieser unglücklichen Organisation - und er ist nicht der einzige Nachteil. Denn bei uns Wirbeltieren liegen auch Blutgefäße auf der falschen Seite der Netzhaut. Das Licht muss also durch ein Geflecht von feinen Adern wandern, bis es auf die Photorezeptoren trifft. Das hat, wie der österreichische Evolutionsbiologe Andreas Wagner betont, deutliche Nachteile: "Verletzungen der Blutgefäße können zur Erblindung führen. Könnte man die gesamte Organisation unserer Netzhaut umdrehen, wäre das bei weitem nicht so gefährlich."

Stoffwechsel: "Exaptationen sind die Regel"

Andreas Wagner hat die essayistische Diagnose von Stephen J. Gould kürzlich mit den Werkzeugen der exakten Wissenschaften überprüft. Er verglich mit Hilfe der Bioinformatik sämtliche in der Natur verfügbaren Stoffwechselwege (vom Bakterium bis zum Menschen), die Traubenzucker als Kohlenstoffquelle verarbeiten. Und stellte dann folgende Frage: Könnten diese Stoffwechsel eventuell auch mit anderen Molekülen etwas anfangen? Etwa mit Zitronensäure oder Alkohol?

Wie Wagner im Fachblatt "Nature" berichtete, lautet die Antwort: Ja, ohne dafür entwickelt worden zu sein, können die allermeisten Stoffwechsel auch von anderen Molekülen gespeist werden. Sie sind in gewisser Hinsicht wie das Sesambein des Panda: bereit für neue, unvorhergesehene Aufgaben, die in Zukunft auf sie warten mögen.

Wagner glaubt, dass die Exaptationen auch auf "höheren" Organisationsebenen, also bei Organen, sehr häufig sind. Der Philosoph Daniel Dennett wagte in seinem Buch "Darwins gefährliches Erbe" eine noch radikalere Vermutung. Er schreibt: "Sie müssen nur weit genug in der Zeit zurück gehen. Dann werden Sie für jedes Organ eine Vorläuferstruktur finden, die früher zu etwas anderem - oder zu gar nichts nutze war."

Und für Wissenschaftstheoretiker Franz Wuketits steht fest: Angesichts dieses improvisatorischen Stils könne nur selten Perfektion entstehen. "Das eigentlich Innovative an der Evolution ist, dass sie nie unterbrochen wurde. Selbst durch die größten Katastrophen der Erdgeschichte ist der Lebensfaden niemals gerissen. Es geht immer weiter. Es muss weitergehen. Wie man in Wien sagen würde: Es wird halt weitergewurstelt."

Robert Czepel, science.ORF.at

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