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Porträtfoto des Philosophen Konrad Paul Liessmann

Das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst

Die Künste und die Wissenschaften haben das Selbstverständnis der Moderne entscheidend geprägt. Sie haben mehr gemein als oft angenommen, ihre Unterschiede zu ignorieren, wäre aber falsch, meint der Philosoph Konrad Paul Liessmann. Gerade sie sind es, die den Dialog der beiden so produktiv machen.

Jubiläen 06.11.2013

Anlass für seinen Gastbeitrag sind die Jubiläen zweier Institutionen, die sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Kunst immer wieder auseinandersetzen: Die Kunstuniversität Linz feiert ihren 40. Geburtstag, das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften seinen 20.

In einem Atemzug

Von Konrad Paul Liessmann

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien. Von Kitsch bis Kierkegaard, von Marx bis zur modernen Kunst reicht das Spektrum seiner Publikationen, zuletzt erschienen etwa seine "Theorie der Unbildung" (2006), "Das Universum der Dinge" (2010) und "Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft" (2012).

Veranstaltungshinweis:

Das IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften feiert dieser Tage sein 20-jähriges Bestehen, die Kunstuniversität Linz ihr 40-jähriges. Zu diesem Anlass gibt es am 5. November einen Festakt an der Kunstuni, bei dem Konrad Paul Liessmann den Festvortrag hält. Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Vortrags.

Ö1 Sendungshinweis:

Über die Analyse von Konrad Paul Liessmann berichtet auch "Wissen Aktuell" am 5. November 2013 um 13.55 Uhr.

Kunst und Wissenschaft haben zumindest eines gemeinsam: Sie werden gerne in einem Atemzug genannt. Und dies nicht nur hier und heute. Dieser Atemzug hat Tradition, und was über die Wissenschaften gesagt wird, trifft dann auch die Künste und vice versa.

Ein Beispiel? Als im Jahre 1749 die Akademie von Dijon die Preisfrage stellte: "Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu reinigen?", hatte der damals noch junge und unbekannte Jean-Jacques Rousseau die kecke Idee, diese Frage mit einem glatten Nein zu beantworten.

Und das Besondere daran: Er gewann diesen Preis. Natürlich könnte man sagen, für die Künste mag dieses Nein wohl zutreffen, nicht aber für die Wissenschaften, oder umgekehrt. Aber das Interessante besteht eben in diesem gemeinsamen Atemzug: Beide oder keine.

Hervorgegangen aus den sieben freien Künsten

Beide oder keine? Seit wann und warum treten Wissenschaften und Künste gemeinsam auf? Und gab es nicht doch auch Zeiten des Zerwürfnisses, der Konkurrenz und der wechselseitigen Aberkennung der Fähigkeit, etwas zur Verbesserung des Menschengeschlechts beitragen zu können? Doch, natürlich gab es diese Zeiten, und auch noch manche andere.

Zur Erinnerung: Die modernen Wissenschaften waren aus der mittelalterlichen "Artistenfakultät" hervorgegangen, an denen die septem artes liberales, die "sieben freien Künste" gelehrt worden waren: Grammatik, Rhetorik, Dialektik - das Trivium -, und Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie - das Quadrivium. Frei waren diese Künste im Gegensatz zu den an anderen Orten geübten artes mechanicae oder artes vulgares, den praktischen Künsten, gewesen, ebenfalls sieben an der Zahl: Webekunst, Waffenschmiedekunst, Bauhandwerk (also Steinmetze und Maurer), Schifffahrt, Jagd, Heilkunst, Schauspielkunst.

Die "schönen Künste" allerdings, also das, was wir heute unter "Kunst" im Sinne einer ästhetisch-kulturellen Praxis verstehen, haben sich überhaupt erst im 18. Jahrhundert aus den artes mechanicae entwickelt und von diesen emanzipiert: Malkunst, Bildhauerei, Tanzkunst, Musik, Poesie, Architektur und Rhetorik. Als der französische Ästhetiker Charles Batteux um 1750 diese Einteilung der schönen Künste, der beaux-arts vornahm, nannte er diese theoretisch-reflexive Beschäftigung mit der Kunst allerdings noch eine "schöne Wissenschaft".

Aus diesen "schönen Wissenschaften", den belles-lettres haben sich allerdings etymologisch dann nicht die Kunst- und Geisteswissenschaften entwickelt, sondern die Belletristik: die schöne Literatur, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Literatur, wie sie an der Universitäten gelehrt wurde, die ja als universitas litterarum die Gesamtheit der Wissenschaften repräsentieren sollte.

"Bologna-Prozess" erinnert an Geschichte

Freie Künste, mechanische Künste, schöne Künste. Ursprünglich waren alles Künste, und das lateinische ars hatte dies noch tatsächlich enthalten: das Wissen und die Technik, die Fertigkeit und das Schöne, die Kunst und die Wissenschaft. Die Künste, die artes waren der Oberbegriff, und dass wir dies nicht vergessen, dafür sorgt der "Bologna-Prozess", also die Neuordnung des europäischen Hochschulwesens.

Dass im Zuge dieser Reform nun alle geistes- und kulturwissenschaftlichen Studien mit einem Bachelor of Arts oder Master of Arts abgeschlossen werden, hat weniger damit zu tun, dass diese Wissenschaftler nun schöne Literatur produzieren, sondern stellt eine nur wenigen Menschen bewusste Reminiszenz an die artes liberales als historische Grundlage dieser Studien dar. Die wirklichen Künstler, die Absolventen einer Kunstuniversität, werden deshalb mancherorts - etwa in Deutschland - zu Masters of Fine Arts.

"Kunst lügt immer"

Einen letzten Höhepunkt erlebte die Einheit von Kunst und Wissenschaft im Typus des Renaissancekünstlers, der - wie Leonardo oder Michelangelo - sich selbst als ein gottgleiches hervorbringendes, schaffendes Wesen sah, für das Wissen und Kreativität, Phantasie und Technik, Theorie und Praxis tatsächlich noch eine Einheit bilden konnte.

Spätestens seit dem 17. Jahrhundert findet aber ein Differenzierungsprozess statt, der die Wissenschaften auf Wahrheit, die Künste aber auf Schönheit verpflichtete, ohne dass die alte metaphysische Formel von der Einheit des Wahren und Schönen (und Guten) noch aufrecht erhalten werden konnte.

Und seit der Romantik gibt es auch den Versuch, die Kunst als Konkurrentin und große Gegenspielerin der wissenschaftlichen Vernunft zu etablieren, und die romantische Sehnsucht, dass die rationale, intellektuelle Erklärung der Welt durch ästhetische Emotionalität wenn nicht widerlegt, dann wenigstens ergänzt werden soll, kommt immer wieder zum Ausbruch.

Es war Friedrich Nietzsche, der letztlich versucht hatte, die Kunst radikal von jeder Verpflichtung auf Wahrheit oder Moral zu befreien. So notierte er sich in einem späten Fragment einmal die folgenden, nicht gerade feinen Sätze: "An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind Eins: fügt er gar noch hinzu >auch das Wahre<, so soll man ihn prügeln." Kunst, so Nietzsche, lügt immer. Die Pointe bei Nietzsche: Auch die Wissenschaft tut dies, nur würde sie es nie zugeben. Sie hält an der Fiktion der Wahrheit fest.

Wahrheit vs. Schönheit

Was aber bedeutet es, wenn man im Sinne Nietzsches einmal tatsächlich radikal die Perspektiven wechselt und, sagen wir, die moderne Wissenschaft so betrachtet, als wäre sie eine Kunst? Der aus Wien stammende anarchistische Erkenntnistheoretiker Paul Feyerabend hat dies einmal versucht, und die Konsequenz dieses Versuches war die Einsicht, dass man sich dann für oder gegen eine wissenschaftliche Theorie so entscheidet wie für oder gegen Punk-Rock. Aus vermeintlichen Wahrheitsfragen werden Geschmacks- und Stilfragen. Es geht und ging übrigens auch umgekehrt. Ob man sich für oder gegen Schönberg entscheidet, war nach Adorno keine Geschmacksfrage gewesen, sondern eine Wahrheitsfrage.

Und doch gerät an dieser Stelle etwas durcheinander. Nämlich die vielleicht von Immanuel Kant am schärfsten formulierte Differenz zwischen der reinen Vernunft, der es um Erkenntnisse und ihren Grenzen geht und deren Legitimität in der objektiven Kraft ihrer Argumente ruht, und der ästhetischen Urteilskraft, der es letztlich um das Beurteilungsvermögen des Schönen geht, das sein Fundament in der sinnlichen Evidenz des subjektiven Geschmacks hat.

Man kann es auch anders formulieren: Das Leitmedium der Wissenschaft ist auch dann die Wahrheit, wenn diese selbst nur eine Imagination sein sollte, das Leitmedium der Kunst ist auch dann die Schönheit oder die ästhetische Gelungenheit, wenn Kunst ganz was anderes sein möchte.

Spannungsfeld mit Überschneidungen

Dieser Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Sphären kann und soll nicht rückgängig gemacht werden, er hat sich aber auch nicht vollständig durchführen lassen. Kunst und Wissenschaft stehen seitdem in einem Spannungsverhältnis, das am fruchtbarsten dann ist, wenn sich diese Disziplinen wechselseitig beobachten und durchdringen und dabei die Erfahrung machen, wie viel vom anderen sie selbst noch immer enthalten.

Es ist kein Geheimnis, in welch hohem Maße ästhetische Kriterien wie Schönheit, Eleganz, Symmetrie, Geschlossenheit, Vollständigkeit auch in Formal- und Naturwissenschaften entscheidende Bedeutung zukommt; es ist ebenfalls kein Geheimnis, dass keine historische Wissenschaft, ja keine Kulturwissenschaft ohne narrative Elemente und Strukturen, also ohne das poetische Moment der Erzählung auskommt; und ob die Psychoanalyse Sigmund Freuds große Wissenschaft oder große Literatur oder beides war, darüber lässt sich noch immer trefflich streiten.

Aber es geht auch umgekehrt. Künstlerische Verfahren ähneln oft wissenschaftlichen Verfahren, das Experiment spielt auch in der Kunst und Literatur eine entscheidende Rolle, Spinoza wollte seine Ethik nach der Art der Geometrie als vollständiges axiomatisches System konstruieren, die Grenze zwischen Softwareingenieuren und Computerkünstlern ist fließend, und man kann schon auch der Ansicht sein, dass der große Gesellschaftsroman des 19. Jahrhundert, wie er sich bei Balzac, Flaubert, Dostojewski oder Theodor Fontane findet, eigentlich eine großartige und erkenntnisreiche "Soziologie" darstellt.

Differenz von Vernunft und Sinnlichkeit

Halten wir fest. Kunst und Wissenschaft in einem Atemzug zu nennen, bedeutet nicht, sie in ihrer Methode, ihrem Ziel und ihren Ergebnissen gleichzusetzen. Und doch haben sie viel miteinander zu tun: in ihrer Methode, ihrem Ziel und ihren Ergebnissen.

Es ist aber nicht der Gleichklang, es ist die Differenz von Wahrheit und Geschmack, von Vernunft und Sinnlichkeit, von Einbildungskraft und Empirie, von Rationalität und Emotionalität, die das Zwiegespräch von Kunst und Wissenschaft, ihre Überschneidungen und Überlappungen, ihre Ausfransungen und Verdichtungen, ihre Verständnisse und Missverständnisse, ihre Sätze und Gegensätze erst zu einer spannenden, produktiven und immer wieder auch irritierenden Angelegenheit macht.

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