Standort: science.ORF.at / Meldung: "Kulturverlust in kleinen Gruppen"

Mitglieder einer Jäger und Sammler-Gruppe bei den Agta auf den Philippinen

Kulturverlust in kleinen Gruppen

Eine Studie französischer Biologen wirft neues Licht auf die Urgeschichte des Menschen. Kultur, so das Ergebnis ihrer Experimente, ist an größere Gemeinschaften gebunden. Kleine Gruppen könnten in Urzeiten bisweilen vom Aussterben bedroht gewesen sein - weil sie ihr Wissen nicht bewahren konnten.

Urgeschichte 14.11.2013

Der Mensch, sagt der britische Evolutionsbiologe Mark Pagel, ist ein Nachahmungswesen. Von anderen lernen können zwar alle Säugetiere, aber nur wir verfügen über die Mittel, um Wissen Stück für Stück aufzutürmen - ad infinitum, wie es scheint. Der Turm heißt "Kultur" und sein wichtigstes Bindemittel ist die Sprache, so Pagel: "Mit ihr sind wir fähig, Abkommen zu treffen und unseren Ideenaustausch zu planen. Das kann kein anderes Tier."

Die Studie

"Experimental evidence for the influence of group size on cultural complexity", Nature (13.11.2013; doi: 10.1038/nature12774).

Sprache, Lernen und Imitieren sind aber nicht die einzigen Voraussetzungen für die Entstehung von Kultur, wie Maxime Derex von der Universität Montpellier hinweist. Er hat folgenden Versuch im Labor durchgeführt. Seine Probanden mussten am Computer via Videodemonstration zwei Tätigkeiten erlernen, die auch in frühen menschlichen Gesellschaften wichtig gewesen sein dürften, nämlich die Herstellung einer Pfeilspitze sowie das Knüpfen eines Fischernetzes. Letzteres war die schwierigere, weil komplexere Aufgabe. Allerdings war das Netz langfristig auch die ertragreichere Methode, um im Rahmen des Computerspiels Punkte (bzw. als Motivationsspritze: Geld) zu sammeln.

Die Technologie verflüchtigt sich

Derex überließ die Probanden allerdings nicht sich selbst, sondern teilte sie in Gruppen mit je zwei, vier, acht und 16 Mitgliedern. Nach 15 Versuchen wurde erstmals abgerechnet, die Probanden konnten sich von den Besten ihrer Gruppe handwerkliche Kniffe abschauen, dann wurde weiter gespielt. Die meisten hatten in der ersten Runde deutlich schlechter als die Videovorlage abgeschnitten, aber einige wenige hatten das Vorbild gleich zu Beginn übertroffen. Das mag erklären, warum die Gruppengröße einen so starken Einfluss auf das Ergebnis hatte.

Wie Derex im Fachblatt "Nature" schreibt, veränderte sich die Pfeilspitzentechnologie in den kleinen Gruppen im Laufe der Zeit nicht wesentlich. In großen Gruppen wurde sie stetig besser. Noch größer der Unterscheid bei der komplexeren Aufgabe: Auch hier verbesserten die Mitglieder der acht und 16 Mitglieder starken Gruppen die Technologie Schritt für Schritt. In den Kleingruppen indes verflüchtigten sich die erlernten Fähigkeiten mit Fortdauer des Spiels. Die Qualität Netze wurde immer schlechter.

Derex schließt daraus, dass die Mitgliederzahl der Urgesellschaften einen wichtigen Einfluss auf die kulturelle Evolution gehabt hat. Beziehungsweise drastischer formuliert: Manche Gemeinschaften könnten sogar vom Aussterben bedroht gewesen sein, weil sie zu klein waren, um ihr Wissen dauerhaft zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Keine Menschen auf King Island

Das erinnert an eine Geschichte, die der US-Evolutionsbiologe Jared M. Diamond anno 1978 erzählt hat. Als die Europäer im 18. Jahrhundert erstmals nach Tasmanien kamen, fanden sie dort 4.000 Menschen vor, die noch immer in der Steinzeit lebten. Ihre Technologie war selbst für Steinzeitbegriffe simpel: Sehr einfach gebaute Werkzeuge, auch die Behausungen und Kleidung rudimentär, sonst nichts - keine Technik um neues Feuer anzufachen, keine Pfeile oder Bumerangs, keine Landwirtschaft, keine domestizierten Tiere.

Laut Diamond spricht alles dafür, dass die Vorfahren der Tasmanier die Insel vor mehr als 20.000 Jahren zu Fuß erreicht haben, als der Meeresspiegel infolge mächtiger Eisschilde deutlich niedriger war. Als es am Ende der Eiszeit wärmer wurde, stieg der Meeresspiegel und Tasmanien wurde vom australischen Festland abgeschnitten. In dieser Region entstanden auch andere, kleine Inseln - King Island und die Furneaux-Gruppe etwa, die neben Wald, Tieren und Wasser auch sonst alle Voraussetzungen für eine Besiedelung gehabt hätten.

Doch sie waren bei Ankunft der Europäer menschenleer. Warum? Diamonds Vermutung: Die Inseln waren zu klein. "Sie konnten nur 200 bis 500 Menschen versorgen. Das ist zu wenig, um in völliger Isolation zu überleben. Die Populationen starben nicht aus, weil es keine Nahrung gegeben hätte. Sie starben aus, weil es zu wenige Menschen gab."

Robert Czepel, science.ORF.at

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