Standort: science.ORF.at / Meldung: "Das Gehirn auf einem Chip"

Computerchip in Nahaufnahme

Das Gehirn auf einem Chip

1,2 Milliarden Euro gibt die Europäische Kommission für das "Human Brain Project" (HBP) in den nächsten zehn Jahren aus. Eines der Ziele des Großprojekts: die Herstellung von Computern, die natürlichen Nervennetzen nachempfunden sind. "Das Gehirn rechnet nicht", sagt Karlheinz Meier, der Kodirektor des HBP. Ein Gespräch über synthetische Neuronen und den Geist in der Maschine.

Neuromorphe Computer 25.11.2013

Was ist ein neuromorpher Computer?
Ein neuromorpher Computer ist ein System, das der Gestalt und der Funktion des Nervensystems nachempfunden ist. "Neuromorphic Computing" bedeutet, dass man ein physikalisches Modell baut, das sich genauso verhält wie eine Zelle im Nervensystem - bzw. wie Netze von Nervenzellen.

Nervenzellen besitzen eine Spannung zwischen Innen- und Außenseite ihrer Membran. Und diese Spannung ändert sich, wenn Ströme in dieses Neuron hinein- und hinausfließen. Im Gehirn passiert das durch die Bewegung von Ionen. Wir bauen das Ganze nach, indem wir Elektronen und Transistoren verwenden.

Welche Vorteile erhofft man sich durch diesen Ansatz?

Karlheinz Meier

Universität Heidelberg

Karlheinz Meier ist Professor für Experimentalphysik an der Universität Heidelberg, Ko-Direktor des "Human Brain Project" und Koordinator des EU BrainScaleS Konsortiums.

Es gibt drei Vorteile. Erstens: Der Energieverbrauch ist extrem gering. Der zweite Vorteil ist die Fehlertoleranz. Das Gehirn verliert pro Sekunde ein bis zwei Nervenzellen, also etwa 100.000 Stück pro Tag. Trotzdem sind wir in der Lage, unsere Aufgaben unverändert zu verrichten.

Das kann ein normaler Mikroprozessor nicht. Wenn man hier nur ein bis zwei Transistoren pro Tag rausnimmt, funktioniert das System nach kurzer Zeit überhaupt nicht mehr. Fehlertoleranz wäre aber für den Bau von Hardware sehr wichtig. Denn Transistoren werden, je kleiner sie sind, immer unzuverlässiger. Neuromorphe Systeme können hingegen mit fehlerhaften Komponenten arbeiten - das haben wir bereits im Experiment gezeigt.

Der dritte Vorteil ist vermutlich der wichtigste: Das Gehirn benötigt keine Software. Es gibt keine vorher entwickelten Algorithmen, die alle Situationen beschreiben, in die das Gehirn kommen kann. Das Gehirn lernt aus Daten, wir lernen aus Erfahrung und können dadurch auch Vorhersagen ableiten. Wenn ein Stein auf mich zurollt, weiß ich, wann und wie ich ausweichen muss, obwohl ich noch nie in dieser Situation gewesen bin. Das ist eigentlich recht beeindruckend. Diese Eigenschaft wollen wir auch in synthetischen Systemen.

Wie weit ist die Forschung bei der Realisierung dieses Konzepts?

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtete auch "Wissen aktuell", 21.11.2013; 13:55 Uhr.

Es gibt viele verschiedene Ansätze, die alle gewisse Vorteile und Nachteile besitzen. Unsere Forschungsgruppe in Heidelberg hat analoge Schaltungen für 200.000 Neuronen und 50 Millionen Synapsen aus Silizium gebaut, auf denen sich - wie in der Nervenzelle - Aktionspotenziale ausbreiten. Dieses "Wafer-System" besteht aus 180 Nanometern großen Transistoren. Die modernsten Transistoren sind zwar kleiner, aber zu teuer.

Neuromorpher Chip "WaferScale System"

BrainScaleS

Neuromorpher Superchip: Das "Wafer System" aus Heidelberg

Wodurch zeichnet sich das "Wafer-System" aus?

Obwohl wir es nicht für niedrigen Energieverbrauch optimiert haben, ist seine Effizienz durchaus erstaunlich. Das Gehirn benötigt für eine synaptische Übertragung zwischen zwei Nervenzellen etwa 10 Femtojoule, also zehn hoch -14 Joule. Zum Vergleich: Eine Computersimulation auf einem Hochleistungsrechner benötigt für diesen Vorgang ein Joule - das ist eine gigantische Energielücke. Unser System benötigt zehn hoch -10 Joule. Wir sind zwar Zehntausend Mal schlechter als die Natur, aber immerhin 10 Milliarden Mal besser als die Computersimulation.

Warum ist der Energieverbrauch so gering?

Das liegt daran, dass in herkömmlichen Computern die sogenannte Von-Neumann-Architektur implementiert ist. Das heißt, Speicher und Rechenwerk sind räumlich getrennt, Daten und Instruktionen müssen permanent hin- und hergeschoben werden. Das kostet extrem viel Energie. In neuromorphen Systemen sind Rechenwerk und Speicher hingegen ein- und dasselbe.

Eine weitere Besonderheit unseres Systems ist sein Zeitverhalten. Klassische Computer benötigen eine externe Uhr für die Regelung der Rechengeschwindigkeit. In unserem System gibt es so etwas nicht. Die synthetische Neuronen tun, was sie wollen, die Geschwindigkeit ist durch ihre physikalischen Eigenschaften gegeben.

Wie hoch ist die Geschwindigkeit im Vergleich zur Natur?

Wir haben uns entschieden, das System um den Faktor 10.000 zu beschleunigen. Wofür die Biologie einen Tag braucht, benötigen wir zehn Sekunden.

Mit welchem Ziel?

Wir wollen herausfinden, was in Lern- und Entwicklungsprozessen passiert. Diese benötigen in der Natur viel Zeit. Und als Simulation auf Supercomputern sind diese Vorgänge noch einmal hundert bis tausend Mal langsamer. Wenn man Versuche machen und wiederholen will, sind beschleunigte Systeme also klar im Vorteil. Allerdings muss ich einschränken: Unsere Modelle sind erheblich simpler als die Simulationen auf Supercomputern. Im Rahmen des Human Brain Project sollen diese Ansätze aber in Zukunft verbunden werden.

Was kann das "Wafer-System" bislang?

Wir sind gerade dabei, es in Betrieb zu nehmen, aufregende Experimente wurden damit noch keine gemacht. Aber wir haben davor mit Einzelchips - also ein paar Hundert Neuronen und Hunderttausend Synapsen - bewiesen, dass man mit diesem Ansatz interessante Resultate erzielen kann.

Zum Beispiel?

Wir haben das Riechsystem von Insekten oder die Schallortung von Schleiereulen auf diesen Chips abgebildet.

Und diese sind mit den biologischen Vorbildern vergleichbar?

Ja, die "Insekten-Chips" konnten Blütentypen gewisse Gerüche zuordnen. Die Schallortung per Chip war sogar präziser als das natürliche Vorbild. Das liegt daran, dass wir aufgrund der Beschleunigung des Systems mit höheren Frequenzen arbeiten können.

Werden die neuromorphen Systeme die Informationsverarbeitung verändern?

Ich bin absolut überzeugt davon, dass sie die klassischen Computer nicht ersetzen werden. Für die Von-Neumann-Architektur gibt es sehr viele sehr gute Anwendungen. Alles, was mit Zahlen zu tun hat, wird man auch in Zukunft mit konventionellen Computern berechnen.

Die neuromorphen Systeme werden dort zum Einsatz kommen, wo wir bislang keine Computer einsetzen konnten, zum Beispiel in der Robotik. Anwendungen sehe ich auch in der Nanoelektronik sowie dort, wo ein sehr geringer Energieverbrauch notwendig ist.

Erfährt man durch diese Systeme auch etwas über die Funktionswiese des Gehirns?

Man muss ganz klar sagen: Bis heute gibt es keine neurowissenschaftliche Erkenntnis, die auf synthetischen Schaltkreisen beruht. Natürlich hoffen wir, dass sich das ändert.

Sie sind Ko-Direktor des europäischen Flaggschiffprogramms "Human Brain Project" (HBP). Wie sehen sie dieses Projekt im Vergleich zur "BRAIN Initiative" der Amerikaner?

Die beiden Projekte sind komplementär und entwickeln zurzeit eine sehr gute Beziehung zueinander. Das europäische Projekt orientiert sich sehr stark an der Computerinfrastruktur. Sei es durch Simulationen auf bestehenden Hochleistungsrechnern oder durch Entwicklung neuer Computer und Roboter. Die "BRAIN Initiative" konzentriert sich auf Brain-Imaging und andere neue Verfahren, um Daten aus dem Gehirn auszulesen.

Zum Grundsätzlichen. Ist das Gehirn ein Bio-Computer?

Das kommt darauf an, wie Sie "Computer" definieren. Wenn ein Computer ein System ist, das Eingangsdaten aufnimmt, verarbeitet und Aktionen von sich gibt, dann könnte man sagen: Ja, das Gehirn ist ein Computer. Wenn allerdings "computing", also "rechnen" gemeint ist, dann lautet die Antwort Nein. Denn Rechnen tut das Gehirn sicherlich nicht.

Das heißt, wenn das Gehirn mit Algorithmen arbeitet, dann nur mit solchen, die es in Echtzeit erfindet?

So könnte man es ausdrücken. Man kann auch die Frage stellen: Ist das Gehirn in seiner Gesamtheit simulierbar? Die Frage ist unbeantwortet. Möglicherweise ist es simulierbar. Nur dürfte die Simulation mit Supercomputern eine sehr uneffiziente Methode sein.

Der US-Philosoph Hubert Dreyfus hat einmal gesagt: Intelligenz ist mehr als nur formalen Gesetzen zu folgen. Stimmen Sie dem zu?

Ja, das ist eine hervorragende Beschreibung.

Schließt das neuromorphe Systeme von intelligentem Verhalten aus?

Aus meiner Sicht nicht, denn bei neuromorphen Systemen bringen wir keine Regeln von außen ins System ein.

Regeln verhindern Intelligenz nicht, sofern sie durch Selbstorganisation entstehen?

Das ist der entscheidende Punkt.

Könnten neuromorphe Systeme in Zukunft Innerlichkeit, vielleicht sogar Bewusstsein entwickeln?

Diese Frage kann heute niemand seriös beantworten. Was mich antreibt, ist das Ziel, unser gegenwärtiges Wissen in ein System zu stecken und echte Hardware zu bauen. Wir versuchen die technischen Grundlagen zu schaffen, um Lernexperimente durchführen zu können. Was wir damit entdecken werden, weiß ich nicht.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: