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Gedenkstein an im Ersten Weltkrieg Gefallene in Belgien

Ein Resümee des Gedenkjahrs - vorab

2014 steht ganz im Zeichen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausgebrochen ist. Schon jetzt zieht der Historiker Siegfried Mattl ein Resümee der zu erwartenden Gedenkveranstaltungen - und schlägt auch zwei Sichtweisen vor, die über die "Lektion" hinausgehen, die Europa zwischen 1914 und 1918 angeblich gelernt hat.

Erster Weltkrieg 02.01.2014

Was nach 100 Jahren noch immer zu tun wäre

Von Siegfried Mattl

Dank des Wettbewerbs von Verlagen, Medien und Veranstaltern darf man sagen: Der Erste Weltkrieg ist bereits so gut wie abgefeiert. Aus der Fülle von Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum lässt sich schon 2013 ein risikofreies Resümee ziehen. Endlich, mit gut 30 bis 50 Jahren Verspätung, kommt die anglo-amerikanische Tradition auch bei den "Verliererstaaten" an, den Ersten Weltkrieg als ein großes Labor vorzustellen, in dem sich mehrere moderne Rationalitätstypen überlagerten.

Das Gemenge, die Konfliktlinien zwischen der body-count-Logik der Generalstabsplanung, der Zerstreuungskultur von Radio und Kino, jener der neurophysiologischen Reparaturanstalten (Elektroschocks für "Kriegszitterer"), der Umwertung der Frauenarbeit, dem Mythos der Kraftmaschine und viele andere mehr verdrängen die strategischen Imitationsspiele, die eine (deutschsprachige) diskreditierte Militärgeschichte zu lange für eine spezialisiertes Publikum fabriziert hat.

Rede von "europäischer Lektion" ist zu erwarten

Wahrnehmungswelten, kulturelle Ausdrucksformen, "Schönheit und Schrecken", wie das vielleicht dichteste aktuelle Buch zum Ersten Weltkrieg aus der Hand des schwedischen Schriftstellers und Historikers Peter Englund heißt, markieren als zentrale Themen den Wandel, der sich eingestellt hat.

Subjektivität und Alltag als, darum kommt man nicht umhin, solange große Nationen diesen Krieg als "The Great War" titulieren, ambivalente Entzauberung eines allzu naiven Pazifismus wie einer hohl gewordenen Avantgarde, die dem Gott der (Kriegs-)Prothesen huldigte.

Soweit, so gut. Dennoch ist zu gewärtigen, dass die Politik sich den Sommer 2014 nicht entgehen lassen wird, um von einer "europäischen Lektion" zu sprechen. Dies ist an sich nicht falsch, erinnert man sich daran, wie verzweifelt der französische Präsident Mitterand in Analogiebeziehung zu 1914 vor einem Zerfall Jugoslawiens warnte.

Es kann auch nicht schaden unter anderen den groß-ungarischen Revisionisten bei Gelegenheit einzuflößen, dass ethno-nationalistische Paranoia schon vor hundert Jahren zum Desaster geführt hat. Dennoch wäre zu wünschen, die "europäische Lektion" nicht als ritualisierte Gedenkformel wuchern zu lassen oder gar noch kulturalistisch zu stützen.

"Ränder" und Form des Krieges beachten

Zwei Bewegungen würden sich 2014 dafür anbieten - eine Sicht auf den Ersten Weltkrieg "von den Rändern her", d.h. von den Kolonien und Neokolonien, deren Erbeutung essenzieller Bestandteil des "europäischen Krieges" bzw. seiner Planungen und Bündnisse gewesen ist. (Lybien, Syrien, Ostafrika, Persien, Mandschurei, Südsee ...; gerade heute nicht zu vergessen: das avisierte deutsche "informelle Empire" mit einem Vasallen-Staat Ukraine).

Eine Sicht, zweitens, auch auf die Formveränderung des Krieges infolge des "Stellungskrieges" und der "Materialschlachten" von 1914/18, die heute zu sogenannten "unerklärten Kriegen" und globalen militärischen Interventionen (samt "collateral damages"), zu einem "asymmetrischen Krieg" ohne (europäische) Opfer geführt hat.

Das heißt, genauer betrachtet: Diese zwei Sichtweisen müssen nicht unbedingt als getrennte gesehen werden, jedenfalls nicht, was das Territorium und die betroffenen Menschen anlangt.

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