Im Interview mit science.ORF.at erklärt der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, warum Schwellenländer die "Motoren der Nachhaltigkeit" sein können und sich westliche Industrienationen dringend Gedanken über ein gutes Leben abseits von materiellem Wachstum machen müssen.
science.ORF.at: Sie sprechen von der "großen Transformation zur Nachhaltigkeit" - Was stellen Sie sich darunter vor?
Dirk Messner: Wir gehen davon aus, dass die Veränderungen die im Rahmen dieser Nachhaltigkeitstransformation vor der Tür stehen, nur mit zwei anderen Veränderungen in der Zivilisationsgeschichte vergleichbar sind. Das eine war die neolithische Revolution vor gut 10.000 Jahren, als die Landwirtschaft erfunden und die Menschen sukzessive sesshaft wurden.
Die zweite große Veränderung war die industrielle Revolution, die sehr ressourcenintensiv und auf fossilen Energieträgern basiert. Natürlich war sie auch ein Wohlstandsmotor für viele Gesellschaften. Jetzt müssen wir das Wohlstandsmodell abkoppeln von fossilen Energieträgern und Ressourcenverbrauch. Die Anforderungen sind sehr vielfältig - und deshalb sprechen wir von der dritten, "großen Transformation".
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Zur Person
Dirk Messner ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und seit 2003 Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Zusätzlich leitet er an der Universität Duisburg Essen das Centre for Advanced Studies on Global Cooperation Research und ist Co-Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.
Veranstaltungsreihe "Mut zur Nachhaltigkeit"
Nächster Vortrag: Große Transformation zur Nachhaltigkeit - Realistische Perspektive oder Illusion? Vortragender: Dirk Messner. Zeit: Donnerstag, 16. Jänner 2014, 18:00 bis 20:00 Uhr. Ort: Kommunalkredit Public Consulting (Türkenstraße 9, 1090 Wien). Der Eintritt ist frei.
Veranstalter der Reihe "Mut zur Nachhaltigkeit" sind das Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit der BOKU, Lebensministerium und Risiko:dialog (Umweltbundesamt, Radio Ö1, BOKU, BMWFJ, Lebensministerium, Austrian Power Grid).
Ist das eine realistische Perspektive oder eine Illusion?
Es hat etwas von beidem. Es ist eine realistische Anforderungsbeschreibung: Wir müssen die Treibhausgasemissionen in den Industrieländern in den nächsten vier bis fünf Dekaden um 90 Prozent senken, in den Schwellenländern um 50 bis 60 Prozent. Wir wissen auch, dass wir die landwirtschaftliche Produktion in den nächsten zwei bis drei Dekaden gut verdoppeln müssen, zugleich wird aber der landwirtschaftliche Boden, der uns zur Verfügung steht, knapper.
Die Anforderungen, die wir hier beschreiben, sind also sehr realistisch. Aber gleichzeitig hat es etwas Utopisches, wenn man sich anschaut, was unsere Gesellschaften da bewerkstelligen müssen. Das ist eine große Herausforderung, die einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel impliziert.
Was würde es konkret brauchen, damit dieser Transformationsprozess gelingt?
Man muss sich fragen: Was sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sektoren, die transformiert werden müssen? Wir sind im Rahmen unserer Untersuchungen auf drei wichtige Wirtschaftssektoren gestoßen. Zum ersten der Energiesektor, denn 75 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen stammen aus der Verbrennung fossiler Energieträger. Diese müssen auf Low-Carbon, irgendwann auf Zero-Carbon umgestellt werden. Da geht es vor allem um erneuerbare Energie, einige Gesellschaften werden sich auch für die Atomkraft entscheiden.
Der zweite große Sektor ist die Landnutzung, da kommen die anderen 25 Prozent Treibhausgasemissionen her. Das dritte Feld ist die Nachfrageseite, also: Wo werden auf Seite der Konsumenten Treibhausgasemissionen erzeugt? Zusätzlich zeigt sich, dass heute 70 Prozent der Treibhausgasemissionen in den Städten erzeugt werden, im Jahr 2040 werden es bereits bis zu 85 Prozent sein. Das sind die großen Transformationsfelder.
Damit das gelingt, braucht es Reformen auf nationaler Ebene aber auch neue Formen der internationalen Kooperation. Wie kann das ausschauen?
Auf nationaler Ebene geht es vor allem darum, dass Treibhausgasemissionen endlich einen ordentlichen Preis bekommen. Auf europäischer Ebene wird versucht das über Emissionshandel zu regeln, man kann das aber auch über Steuern machen. Die Marktwirtschaft funktioniert nun einmal nach Knappheitsanreizen. Und solange es keinen Anreiz gibt, weniger Treibhausgase in die Atmosphäre zu lassen, werden wir ein riesiges Problem haben. Zusätzlich müssen wir Technologien entwickeln, mit denen wir die Treibhausgaseffizienz in den genannten Sektoren radikal verbessern können. Diese wichtigen Felder müssen in Politiken übersetzt werden.
Und international?
Auf der internationalen Ebene haben wir die Klimaverhandlungen, die kommen aber nur sehr schwerfällig voran. Da sind wir realistisch und pessimistisch: Wir glauben nicht, dass wir in den nächsten drei bis fünf Jahren - und wir arbeiten ja unter großem Zeitdruck - zu Durchbrüchen kommen werden. Deswegen schlagen wir neue Formen der internationalen Kooperation vor. Einerseits zwischen den Nationalstaaten, aber auch zwischen einzelnen Städten.
Wir haben schon jetzt eine Vielzahl von Städten, die in Eigeninitiative versuchen, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Wir stellen uns Bündnisse jener Städte vor, die voran gehen wollen und sich dabei wechselseitig Vorteile verschaffen. Etwa zwischen den zehn stärksten Emittenten von Treibhausgasen. Vorstellbar wäre die Universitäten dieser Städte zu vernetzen und gemeinsame Forschung zu betreiben. Oder, dass die Architektur-Fakultäten dieser Städte gemeinsam an zukünftigen Designs von klimaverträglichen Städten arbeiten. Das scheint ein Vorhaben zu sein, das man schneller voran bringt als die Verhandlungen zwischen 193 Nationalstaaten.
Wie stellen Sie sich solche Bündnisse unter Nationalstaaten vor?
China etwa ist derzeit der wichtigste Investor im Bereich klimaverträglicher Energiesysteme, hier gibt es große Anstrengungen. In Deutschland versuchen wir die Energiewende voranzubringen, also in den nächsten zwei bis drei Dekaden unser Energie-System so weit wie möglich auf erneuerbare Energie umzustellen und dabei auch aus der Nuklearenergie auszuscheiden. Es gibt weltweit eine Reihe von Staaten unterschiedlicher Wirtschaftsstärke, die auch versuchen in diese Richtung zu gehen. Marokko etwa in Nordafrika oder auch Vietnam.
Wir stellen uns vor, dass diese Länder sich zu einer "Pionierallianz" zusammenschließen und stärker kooperieren - das könnten etwa gemeinsame Handelspolitiken sein. Das heißt, man könnte Akteure, die nicht Teil des Bündnisses sind, mit Handelsrestriktionen belegen. Dadurch könnten die höheren Kosten, die anfangs entstehen, wenn man auf Klimaverträglichkeit setzt, kompensiert werden.
Das heißt in Ihrer Vorstellung können bzw. sollen durchaus Schwellenländer, die "Motoren der Nachhaltigkeit" sein?
Inzwischen können wir den Übergang zur Klimaverträglichkeit ohne die Schwellenländer gar nicht mehr schaffen. Vor zwanzig Jahren war die Perspektive noch, dass die Industrieländer zuerst den Übergang bewerkstelligen, Technologien entwickeln, Infrastrukturen umstellen und die Entwicklungs- und Schwellenländer dann nachziehen. Seither hat sich aber in der Weltwirtschaft viel verändert - die wachstumsstärksten Ökonomien sind jetzt die Schwellenländer. Viele dieser Gesellschaften befinden sich ohnehin in einen Transformationsmodus. Schauen Sie nach China: Bei Wachstumsraten von sieben bis neun Prozent hat man eine unglaubliche Dynamik des Umbaus in der Gesellschaft.
Wenn man in diesem Prozess die Vektoren in Richtung Nachhaltigkeit stellt, kann man auch einen schnellen Wechsel erreichen. Industriegesellschaften in Europa nahe der Ein-Prozent-Wachstumsrate haben eine sehr viel geringere Modernisierungsgeschwindigkeit, hier gibt es keinen Transformationsmodus. Deswegen kann es gut sein, dass die Schwellenländer die Antreiber dieses Prozesses sein werden.
Besteht hier nicht die Gefahr, die Verantwortung an jene abzuschieben, die erst am Aufholen sind und sich jene, die sich schon viel länger klimaschädigend verhalten, zurück lehnen?
Das muss man unbedingt vermeiden. Sollten die Industrieländer in eine Richtung agieren, die nahelegt dass "die Schwellenländer das Problem einmal lösen sollen, wir schauen ob es gelingt und folgen dann nach" - dann werden die Schwellenländer nicht in diese Richtung gehen. Aus der Sorge heraus, dass sie aus dieser Position die Bedingungen für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung etc. beschädigen.
Die Industrieländer müssen also zeigen, dass sie gewillt sind diese Transformation mitzumachen, auch mit anzuführen. Aber die Geschwindigkeit, in der sie dann real stattfinden wird, wird in den Schwellenländer höher ausfallen als in den Industrieländern.
Diese Länder wollen ja berechtigterweise in Sachen Lebensqualität mit westlichen Industrienationen gleichziehen. Kann das nicht als fehlgeleitete Kritik am Wunsch nach einem besseren Leben interpretiert werden, wenn den Schwellenländern nun Nachhaltigkeit abverlangt wird?
Diese Diskussion findet massiv statt. Im Grunde ist das eine Glaubwürdigkeits- und Gerechtigkeitsfrage. Seit den 90er Jahren haben wir die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change und wissen, dass wir es mit einem ernsten Problem zu tun haben.
Am Anfang dieser Diskussion haben viele Akteure in den Schwellenländern - auch Kollegen aus der Wissenschaft - argumentiert, dass das ein Versuch der Industrieländer sei, die jetzt endlich wachsenden Entwicklungs- und Schwellenländer in ihrem Modernisierungsprozess zu bremsen. Aber die Daten sind immer besser geworden und wir wissen heute, dass wir in den Grenzen des Erdsystems Wohlstand erzeugen müssen. Das ist auch in den Schwellenländern angekommen.
Jetzt sind die Schwellenländer gerade erst auf den Wachstumspfad aufgesprungen - aber ist nicht genau dieses inhärente Streben nach Wachstum die Wurzel des Übels?
In den westlichen Gesellschaften muss man genau diese Frage stellen. Wir brauchen ein Wohlfahrtsmodell und auch ein Verständnis davon, was ein gutes Leben ausmacht, das nicht nur an materielles Wachstum gekoppelt ist. Das ist fundamental und langfristig werden wir unsere Probleme nicht lösen, wenn wir darauf keine Antwort finden.
Wenn ich aber den Gesellschaften in den Entwicklungs- und Schwellenländer - die noch um den Faktor fünf bis sieben weniger wohlhabend sind als Europa - nun Verzicht predige, käme ich mir arrogant vor. Allein in Indien leben 500 Millionen Menschen unter der absoluten Armutsgrenze von 1,25 Dollar pro Tag. Diesen 500 Millionen Menschen kann ich nicht erzählen, dass wir jetzt über eine Postwachstumsgesellschaft diskutieren müssen. Auch in China gibt es noch viel Aufholbedarf und das muss realisiert werden, sonst werden wir an Gerechtigkeitsproblemen scheitern.
Wie sehr müssen sich dann aber auch internationale Machtgefüge verändern?
In den letzten 15 Jahren haben sich die Machtverhältnisse in der Weltwirtschaft enorm verändert, wir bewegen uns in einer post-westlich strukturierten Weltwirtschaft. Die größten Devisenreserven in der Höhe von knapp drei Billionen US-Dollar liegen in China. Das heißt, das ganze Verschuldungsproblem in Europa und den USA lässt sich ohne China gar nicht mehr lösen.
Zugleich haben wir in den internationalen Organisationen wie der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds noch die klassischen westlichen Machtverhältnisse - Industrieländer sind die dominanten politischen Akteure, die sie wirtschaftlich gar nicht mehr sind. Da gibt es einen Anpassungsbedarf der stattfinden muss, sonst haben wir ein Legitimationsproblem in der internationalen Politik und das erschwert die Kooperation.
Welches gemeinsame Wertesystem und welches wirtschaftspolitische System muss dieser Kooperation zukünftig zu Grunde gelegt werden?
Vielleicht ist das die gute Nachricht: Wenn man die Nachhaltigkeitsproblematik ernst nimmt, dann sind Industrie- und Schwellenländer gleichermaßen auf der Suche nach neuen wirtschaftspolitischen Designs, um diese Probleme zu bewältigen. Die Industrieländer können nicht mehr kommen und sagen: "Wir haben ein wunderbares Wirtschaftssystem, schaut euch an wie das funktioniert und kopiert das." Das macht Kooperation sehr schwer, wenn auf der einen Seite diejenigen stehen, die über Ressourcen und Macht verfügen und obendrein noch glauben, sie hätten das beste Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Welt.
Und auf der anderen Seite diejenigen sind, denen geholfen wird, die man in der Entwicklungspolitik auch die "Nehmer" nennt. Diese Konstellation ist eigentlich zerstört, weil Industrieländer und Schwellenländer gleichermaßen nach Innovationen suchen müssen, um nachhaltige Wirtschaft zu entwickeln. Wir sind als westliche Industriegesellschaften nicht mehr in der Besserwisser-Position. Das macht möglicherweise Kooperationen einfacher.
Ihr Institut schreibt über "vielversprechende Ansätze zur Bereitstellung globaler öffentlicher Güter". Welche Ansätze sind das?
Für mich wird das 21. Jahrhundert das Zeitalter der "Global Commons", also der globalen Gemeinschaftsgüter werden. Wir müssen als internationale Gemeinschaft lernen, die Atmosphäre, die globale Biodiversität, die globale Infrastruktur wie Verkehr und Internet aber auch internationale Finanzmarktstabilität als öffentliches Gut zu begreifen.
Wir müssen lernen, dass eine große Zahl an Elementen der internationalen Ökonomie durch nationale Ökonomien nicht mehr bereitgestellt werden kann, dass internationale Kooperation notwendig ist. Ein Problem dabei ist die vorhin angesprochene Machtverschiebung - das sind komplizierte, historisch betrachtet auch immer konfliktive Phasen in der Weltpolitik.
Das zweite Problem sind die Faktoren, die Kooperation überhaupt erst ermöglichen. Das haben wir interdisziplinär untersucht und kamen auf Faktoren wie: Reputation, eine gemeinsame Wir-Identität der Akteure, Reziprozität und Vertrauen. In diese Faktoren müssen wir erst einmal investieren. Das haben wir im Rahmen der Europäischen Union, im G8-Kontext oder der Transatlantischen Gemeinschaft über Dekaden versucht aufzubauen. Zwischen den alten und neuen Akteuren der Weltpolitik müssen wir das aber erst einmal zustande bringen.
Interview: Theresa Aigner, science.ORF.at