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Stuart Hall

Nachruf auf den "Doyen" der Cultural Studies

Am Montag ist der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall 82-jährig in London gestorben. Er galt als einer der profiliertesten Denker Großbritanniens und Hauptvertreter der Cultural Studies. Der Politikwissenschaftler Roman Horak porträtiert den Vater "dieser eigenartigen transdisziplinären Disziplin, die immer auch ein intellektuelles und politisches Projekt sein wollte".

Stuart Hall 13.02.2014

Der Blick für das Ganze und die nie endende Suche nach neuen Fragen und Antworten bestimmten seine wissenschaftliche und politische Arbeit gleichermaßen, schreibt Horak, den der "famous Stuart" auch einmal persönlich anrief.

Ein Nachruf auf Stuart Hall

Von Roman Horak

Roman Horak

Roman Horak

Über den Autor:

Roman Horak ist Außerordentlicher Professor an der Universität für angewandte Kunst und Leiter der Abteilung für Kulturwissenschaften ebendort. 1998 - 2007 Mitglied des "International Board" der Zeitschrift "Cultural Studies"; aktuell im Beirat des "International Journal for the History of Sport", des "European Journal for Cultural Studies" und von "Culture Unbound‘. Seit 2008 Vorstandsmitglied der Association for Cultural Studies (ACS). Arbeitsschwerpunkte: Urbane Kulturen, Jugendkultur, Cultural Studies, Popularkultur, Ethnographie.

Als zu Beginn der 1980er Jahre die über weite Strecken etwas staubige deutsche Jugendforschung in eine flotte Jugendkulturforschung mutierte, war das wesentlich dem Einfluss des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) geschuldet. Um die Verbreitung von dessen Studien zu jugendlichen Subkulturen hat sich besonders der Syndikat Verlag in Frankfurt bemüht, hier erschienen die wichtigsten Arbeiten in deutscher Übersetzung, von hier aus begann eine Rezeption, die enorm prägend werden und diversen Disziplinen (von der Pädagogik bis zur Sportsoziologie) Neuorientierung bieten sollte. Verdienstvoll wie dies auch war, so warf es doch ein etwas schiefes Licht auf die Aktivitäten des CCCS, viele emsigen Jugendkulturforscher nahmen den Teil für das Ganze, will sagen, missverstanden die gesamte und auch schon in ihren Anfängen vielfältige Praxis der Cultural Studies als eine neue Art der Auseinandersetzung mit Jugendfragen.

Unter der Leitung von Stuart Hall hatte sich das 1964 von Richard Hoggart gegründete Centre seit den späten 1960er Jahren – wohl auch im Gefolge des antiautoritären Aufbruchs – neuen Themenfeldern, Autoren, methodischen Zugangsweisen und Theorien (zumal kontinentaleuropäischer Herkunft) geöffnet, Überlegungen zur geschlechtlichen und ethnischen Identität, zu Rassismus, Massenmedien und popularer Kultur wurden, vorerst in den mittlerweile mythischen Status erlangt habenden 'Working Papers in Cultural Studies', später in zahllosen Buchpublikationen, vorgelegt.

Wer mit den damaligen Schülern und Schülerinnen - mittlerweile allesamt Veteranen der Cultural Studies - von Hall spricht, wird stets auf dessen feinfühlige aber doch bestimmte, fordernde aber auch fördernde Haltung verwiesen, die der gemeinsamen Arbeit des in jeder Hinsicht (geografisch wie akademisch) am Rande liegenden CCCS Gehalt, Form und Gestalt gab.

Ein "vertrauter Fremder"

Stuart Hall wurde 1932 in Kingston als Sohn einer Jamaikanischen Mittelschichtfamilie geboren, sein Vater war der erste Nichtweiße, der bei der United Fruit Company in Jamaika eine höhere Position einnahm, seine Mutter pflegte eine quasi-emotionale Bindung an das entfernte Vereinigte Königreich. Hall, der eine klassische Englische Erziehung erfuhr, litt unter der kolonialen und rassistischen Beengung, der er 1951 mittels eines Rhodes Stipendiums an die Universität Oxford entkam.

Hall, der die englische Kultur genau und von innen kannte, stand ihr zeitlebens zugleich distanziert gegenüber, als 'vertrauter Fremder’ sah er sich, und wir können uns vorstellen, wie Hall sich in der Welt der Dons in Oxford fühlte, wenn wir an das Diktum seines etwas älteren Freundes und Mitstreiters Raymond Williams erinnern, der seine Erfahrung als walisischer 'Working class lad' in Oxbridge mit dem Satz 'they just didn’t speak the same language' charakterisierte.

Beide wurde wichtige Figuren der Mitte der 1950er Jahre sich formierenden 'New Left', die jenseits der stalinistischen alten Linken, nicht zuletzt geprägt von der sowjetischen Unterdrückung des ungarischen Volksaufstandes, eine Politik zu formulieren suchte, die in ihrer theoretischen Grundlegung nicht auf Marx verzichten wollte.

Viel später sollte Hall den Begriff eines 'Marxismus ohne Garantien' prägen, die Haltung, die dahinter stand, finden wir schon hier und sie sollte ihn ein ganzes Leben - gegen zeitgeistige Anfechtungen auch der Postmoderne - kennzeichnen.

Blick auf das Ganze

Hall, der seine politische Heimat in der Neuen Linken gefunden hatte, gehörte 1960 zu den Gründern der New Left Review, die heute, nach über einem halben Jahrhundert, immer noch die internationale linke Debatte mitgestaltet.

1967 redigierte er gemeinsam mit dem schon erwähnten Raymond Williams und Edward P. Thompson das 'May Day Manifesto', eine Positionsschrift, die auf die neuen Entwicklungen des Kapitalismus reagierte (wir finden hier den von großer Weitsicht geprägten Begriff des 'managerial capitalism') und enttäuscht über die 1964 gewählte Labour-Regierung eine neue Politik formulierte, die die Gesamtheit des politischen, ökonomischen und kulturellen Systems im Auge behielt.

Den Blick auf das Ganze, eine heute etwas unzeitgemäß anmutende Attitüde, um den ging es Hall in seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit gleichermaßen, wobei ihm stets bewusst war, das dies mehr Desideratum denn mögliche Praxis blieb.

Skizze des 'autoritären Populismus'

Halls Berufung an die Open University 1979 fiel mit dem Wahlsieg Margaret Thatchers zusammen, schon ein Jahr vorher hatte er in der gemeinsam mit vier Kollegen des CCCS veröffentlichten Schrift 'Policing the Crisis' den kommenden 'autoritären Populismus' skizziert, der sich in einer verschärften Law-and-Order-Politik auch und wesentlich in Bezug auf Fragen von Ethnizität äußerte.

Halls von Antonio Gramscis Hegemonietheorie inspirierte Analyse des Thatcherismus kommt nicht nur vor dessen breit einsetzenden Effektivität, sehr früh und mit großem Weitblick sieht sie ihn als die Regierungszeit der Namensgeberin überdauernden Einschnitt in die Verfasstheit Großbritanniens, seine Trajektorien wird Hall genauso exakt in New Labour als auch in der gegenwärtigen Koalitionsregierung finden.

Fragen und Antworten

Wollen wir ein Charakteristikum von Halls Arbeit finden, so ist dieses jenseits der thematischen Vielfalt anzusiedeln. Gewiss, Hall hat bahnbrechende Beiträge zu so unterschiedlichen Thematiken wie Medientheorie (ich verweise auf den gegen seinen Willen kanonisierten Aufsatz 'Encoding und Decoding in the Television Discourse'), Fragen von Ethnizität und Rassismus (Hall verwehrt sich gegen essentialistische Bestimmungen des Begriffs Rasse und handelt sich dabei heftige Kritik auch von schwarzen amerikanischen Postkolonialismusdenkern- und Denkerinnen ein) oder kultureller Identität (die er als immer in Bewegung befindlich sah) vorgelegt. Zudem hat er sich mit schwarzem Film und Fotografie eingehend und erhellend beschäftigt.

Mit einem bei Personen seiner Größe unüblichen Mangel an Eitelkeit hat er sich nicht um die Schaffung eines 'geschlossenen Werkes' bemüht (dass ein Werk, und ein beindruckendes zumal, dennoch vorliegt, soll hier nicht verschwiegen werden), eher ging es ihm um das nicht nachlassende Fragen, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen (immer wieder in Kooperation mit anderen) im Wissen um deren Vorläufigkeit, das, so meine ich, zeichnet Stuart Hall besonders aus. Das und eine gleichermaßen freundliche Offenheit.

"The famous Stuart is on the phone…"

Ich erlaube mir, diesen Nachruf mit einer kleinen persönlichen Bemerkung zu beenden. In den frühen 1990er Jahren habe ich - im Anschluss an ein Forschungssemester 1988/89 an der Universität Leicester - regelmäßig einen lieben Freund und Kollegen ebendort besucht. Bei einer dieser Reisen hatte ich ein Interview mit Stuart Hall geplant, aber schlecht vorbereitet, und dessen Büro nicht bereits in Wien, sondern erst von Leicester aus kontaktiert.

Am Tag vor meiner Rückreise rief mich mein Freund in ironisch-bewunderndem Ton mit der Bemerkung 'The famous Stuart is on the phone for you' ans Telefon. Und in der Tat, Stuart Hall persönlich war dran und entschuldigte sich für den verspäteten Rückruf. Aus dem Interview ist dann leider nichts geworden, aber ich hatte später wenigstens die Gelegenheit, ein paar Mal mit ihm zu sprechen. Kurz wie diese Gespräche waren, so haben sie mich doch tief beindruckt.

Vermächtnis bleibt prägend

Am 10. Februar diese Jahres, eine Woche nach seinem 82. Geburtstag, ist Stuart Hall gestorben. Mit Trauer gedenken wir seiner, aber für alle, die im Bereich der Cultural Studies arbeiten, bleibt sein Vermächtnis prägend. Seine Bestimmung dieser eigenartigen transdisziplinären Disziplin, die immer auch ein intellektuelles und politisches Projekt sein wollte, bleibt bestehen.

In einem Interview mit der Zeitschrift 'Radical Philosophy' hielt Hall 1997 fest: "There are all kinds of cultural studies going on, but this interest in combining the study of symbolic forms and meanings with the study of power has always been at the centre."

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