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Screenshot aus dem Film "Eine dunkle Begierde"

Die Wissenschaft der "dunklen Begierde"

Es war der große Tabubruch im Leben des C.G. Jung: Der Schweizer Psychiater verliebte sich in seine Patientin Sabina Spielrein und begann mit ihr eine Affäre. 2011 nahm sich Hollywood-Regisseur David Cronenberg des Stoffes an und verfilmte ihn mit Staraufgebot. Doch Spielrein war bedeutend mehr als nur die Geliebte Jungs: "Sie war eine brillante Wissenschaftlerin", betont die Religionspsychologin Pamela Cooper-White.

Psychoanalyse 07.03.2014

In einem Interview spricht Cooper-White über die unbekannten Seiten im Leben der Sabina Spielrein sowie über die "gesunde und neurotische Seite" der Religion.

science.ORF.at: Viele Menschen denken bei Sabina Spielrein an die Affäre zwischen ihr und C.G. Jung, wie sie im Film „Eine dunkle Begierde“ dargestellt wird. Wer war diese Frau?

Pamela Cooper-White

Pamela Cooper-White

Zur Person

Pamela Cooper-White ist Ben & Nancye Gautier Professorin für Pastoraltheologie, Seelsorge und Pastoralberatung am Columbia Theology Seminary in Decatur, Georgia. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Spannungsfeld von Religion, Psychologie und Psychoanalyse

Während eines Aufenthaltes in Wien widmete sie sich einem Forschungsprojekt mit dem Arbeitstitel "Existential, Humanistic, and Religious Themes in Writings of Freud's Vienna Circle and the Vienna Psychoanalytic Society".

Ende Jänner hielt sie im Sigmund Freud Museum einen Vortrag zu Sabina Spielrein und ihren Beiträgen zur psychoanalytischen Wissenschaft.

Pamela Cooper-White: Sie war sehr vieles. Sie war eine engagierte und brillante junge Psychoanalytikerin, Ärztin und Wissenschaftlerin – diese Seite wird durch den Skandal rund um C.G. Jung, wie er im Spielfilm dargestellt wird, oft verdunkelt. Sie hatte als Forscherin eigene Ideen und publizierte ein umfangreiches Werk. Im Laufe ihrer Karriere setzte sie sich für die Verbreitung der Psychoanalyse in Österreich, Deutschland und in ihrem Heimatland Russland ein.

Welchen Beitrag hat sie als Forscherin geleistet?

In meinen Untersuchungen habe ich mich vor allem auf ihre frühen Arbeiten konzentriert. Diese kreisen um den Todestrieb, der als Sigmund Freuds Konzept bekannt ist. Sabina Spielrein hatte jedoch eine Version davon, bevor er es hatte und sie inspirierte ihn maßgeblich bei seinen Überlegungen.

Das, was sie sagte, war simpel ausgedrückt: Wenn etwas Neues im Leben entstehen will, muss etwas Altes sterben, was man nun wörtlich oder auch metaphorisch verstehen kann. Somit beruht jede Schöpfung auf dem Tod des Vorherigen. Diesen Vorgang versuchte sie später mittels religiöser Symbolik aber auch auf der Basis von biologischen Beobachtungen darzustellen.

Sie interessierte sich auch für Schizophrenie, Kinderanalyse, Sexualität und die Mitter-Kind-Interaktion. Generell kann gesagt werden: Beinahe jede größere theoretische Entwicklung innerhalb der Psychoanalyse ist – wenn man genau hinsieht – in einer früheren Version im Werk von Sabina Spielrein aufzufinden.

Im Film lernen wir Sabina Spielrein auch als Patientin kennen. Woran litt sie?

Das ist rückblickend sehr schwer zu sagen. Sie wurde im psychiatrischen Krankenhaus Burghölzli mit der Diagnose einer psychotischen Hysterie aufgenommen. Es gibt jedoch zu wenige Anhaltspunkte, um die Diagnose einer psychotischen Erkrankung zu bestätigen. Heute würden wir sie als jemanden verstehen, der als Kind sexuellen Missbrauch erlitten hatte und klassische Symptome von posttraumatischem Stress zeigt; sie wurde schließlich auch von beiden Elternteilen geschlagen. In ihrer Therapie wurde ihr bewusst, dass die Schläge von ihrem Vater ebenso eine erotische Komponente hatten, was in ihr eine Art masochistischen Komplex aktivierte.

Wie beurteilen sie die intime Beziehung zwischen C.G. Jung und Spielrein?
Die heutigen psychotherapeutischen Organisationen sehen so etwas als eine gewaltige ethische Verletzung an, die nicht ohne Konsequenzen für den Therapeuten bleiben wird. Historisch betrachtet hatte dieser Übergriff auch eine produktive Seite: Er war ausschlaggebend für die Arbeiten zum Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung. Dabei geht es um die Reaktionen des Patienten auf den Psychoanalytiker, sowie um die Gefühle die der Patient im Analytiker auslöst. Diese Überlegungen sind inzwischen wichtige Arbeitsinstrumente der Psychoanalyse.

Im vergangenen Wintersemester haben Sie existenzielle und religiöse Themen im Kreis um Sigmund Freud untersucht. Welche Rolle haben diese gespielt?

Zur Anfangszeit der Psychoanalyse wurde das Thema Religion unter anthropologischen und soziologischen Aspekten betrachtet. Die damaligen Psychoanalytiker untersuchten, welche gesellschaftlichen Funktionen Religionen erfüllen und welche Auswirkungen diese auf den Menschen haben: im persönlichen und politischen Kontext.

Zum Beispiel?

Die Kirche hatte großen Einfluss auf das Schulwesen und die Erziehung. Es wurde kein gesunder Umgang mit der eigenen Sexualität und mit Liebesbeziehungen gelehrt. Vielmehr förderte der Unterricht Unterdrückung und Verdrängung.

Wie steht es heute um die Rolle der Spiritualität im Bereich der Psychoanalyse?

Das hängt von der Richtung der Psychoanalyse ab, mit der man sich beschäftigt. Ich bin eine psychoanalytisch orientierte Therapeutin; inzwischen gibt es eine große Breite an Akzeptanz gegenüber Spiritualität im Bereich der Psychotherapie. Freud sah vor allem jene Formen von Spiritualität und Religiosität kritisch, die in Form von Institutionen zu Unterdrückung führen.

Und in der Psychiatrie?

Im Bereich der medizinischen Wissenschaft gibt es in der letzten Vergangenheit Veränderungen. Durch den Diagnosekatalog DSM 5 schafft die Psychiatrie nun Raum für spirituelle Probleme und Krisen und erkennt deren Relevanz. Außerdem gibt es in den letzten Jahren eine Menge an Publikationen, die auf die Notwendigkeit hinweisen, dass Ärzte und Therapeuten die spirituellen Dimensionen ihrer Patienten ernst nehmen sollen.

Wird zwischen spirituellen und religiösen Themen unterschieden?

Es gibt innerhalb der Therapieszene mehr Widerstand gegenüber institutionalisierten Religionen als in Bezug auf generelle Spiritualität. Der Grund ist, dass unter dem Schirm der Spiritualität umfassendere Themen verstanden werden können als mit der Einschränkung auf ein konfessionelles Weltbild. Es ist wichtig, dem Patienten zuzuhören und herauszufinden, in welcher Art und Weise Spiritualität den Patienten unterstützen kann und dessen Leben bereichert.

Spiritualität kann dabei helfen, eine psychische Krankheit zu überwinden?

Ja, ich glaube schon – es kann aber auch Heilung behindern. Neben meiner therapeutischen Profession bin ich auch als Priesterin und Seelsorgerin tätig. Meine Erfahrung ist, dass Religion oder Spiritualität in einer gesunden oder neurotischen Art und Weise verwendet werden kann. Ich hatte Patienten, die unter ihrem Glauben furchtbar gelitten haben und denen es durch die Therapie gelang in ein neues, fruchtbares Verhältnis zu ihrer Spiritualität zu kommen. Ihr verinnerlichtes Gottesbild hat sich verändert.

Gott als böser Vater?

Ja (lacht), sozusagen, natürlich ist das nicht auf das Männliche beschränkt. Einige Psychoanalytiker haben gezeigt, dass das Gottesbild eines Menschen abhängig ist von den frühkindlichen Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen. Diese werden verinnerlicht und prägen das Gottesbild: Reagieren die Eltern ablehnend, kontrollierend und bestrafend, so wird Gott auch zu einem ablehnenden, kontrollierenden und bestrafenden Gott; anders bei jenen Menschen, die in einem vorwiegend liebevollen und mitfühlenden Familienklima aufwachsen. Eine Therapie kann Wege eröffnen, diese Erfahrungen zu reflektieren und eine gesunde Beziehung zu sich selbst, zur Welt und zu Gott aufzubauen.

Interview: Aaron Salzer, science.ORF.at

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