Erfolgreich angewandt wurde die erstmalige Kombination bekannter Methoden bei einem heute 72 Jahre alten Patienten, berichtet eine Gruppe um Max Ortiz Catalan von der Chalmers University of Technology in Göteborg.
Die Studie:
"Treatment of phantom limb pain based on augmented reality and gaming controlled by myoelectric pattern recognition: a case study of a chronic PLP patient" von Max Ortiz Catalan und Kollegen ist am 25.2.2014 in "Frontiers in Neuroscience" erschienen.
Links:
- Video der Forschungsarbeit, YouTube
- Software "BioPatRec"
- Muscle and nerve controlled arm prosthesis, Chalmers University
Ö1 Sendungshinweis:
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 26.2., 13:55 Uhr.
Ein besonders schwerer Fall
"Wir haben für den Test unserer Methode einen wirklich schweren Fall ausgesucht", erklärt der gebürtige Mexikaner Ortiz Catalan gegenüber science.ORF.at. Der Patient hat vor 48 Jahren seinen rechten Arm nach einem Unfall knapp unterhalb des Ellbogens verloren. Seither hat er alle möglichen Arten der Behandlung ausprobiert - von Medikamenten und Akupunktur bis zur Selbsthypnose, nichts konnte ihn von seinen Phantomschmerzen befreien.
Auch nicht die Spiegeltherapie, die vom Prinzip her ähnlich funktioniert wie die neue Methode. Bei der Spiegeltherapie stellt der Patient zwischen seine Beine oder Arme einen Spiegel. Dadurch wird der Stumpf verdeckt, und im Spiegel erscheint eine zweite Gliedmaße. Der Patient macht dann Übungen mit dem gesunden Arm oder Bein und betrachtet dabei das Spiegelbild - diese Illusion reicht aus, um das Gehirn zu überzeugen, dass die Extremität noch vorhanden ist. Und das kann zu einer Linderung der Phantomschmerzen führen.
System simuliert den wieder kompletten Körper
Das gleiche Prinzip kommt auch bei der Methode von Ortiz Catalan und seinen Kollegen zur Anwendung. Im Gegensatz zur Spiegeltherapie könnten Patienten damit theoretisch aber auch beide Gliedmaßen verloren haben.
Die Forscher kleben dabei Elektroden auf die Haut des Stumpfes des Patienten, und zwar dort, wo bestimmte Muskeln enden. Wenn die Muskeln aktiviert werden, senden sie elektrische Signale an ein Computersystem, das Bewegungen auf einem Bildschirm darstellt. D.h. wenn sich der Patient etwa vorstellt, seinen Arm nach links zu drehen, dann zeigt das System der Erweiterten Realität einen links drehenden Arm.
Eine Webkamera nimmt zudem permanent Bilder des Patienten auf und verknüpft sie mit dem virtuellen Arm. "Der Patient sieht sich vollständig", erklärt Ortiz Catalan. "Er kann den virtuellen Arm mit Befehlen seines Stumpfes kontrollieren."

Ortiz-Catalan et al, Frontiers in Neuroscience
Dabei bleibt das System aber nicht stehen: Es lässt auch zu, dass der Patient mit seinem Stumpf Computerspiele lenkt - etwa ein Autorennen. "Unser Patient ist sehr gut dabei, viel besser als ich und meine Kollegen", lacht Ortiz Catalan. "Er hat einfach sehr viel damit geübt und Spaß daran."
Dies ist entscheidend, meint der Neuroforscher. Denn die Nicht-Befolgung ärztlicher Ratschläge sei in der Therapie oft ein großes Problem. "Die physikalische Therapie in der Rehabilitation ist oft sehr eintönig, über lange Zeiträume gibt es oft keinen Fortschritt." Im Spiele-Modus der Software hingegen werden die Fortschritte buchstäblich erfahrbar und sichtbar - und das macht die Therapie abwechslungs- und erfolgreicher.

Ortiz-Catalan et al, Frontiers in Neuroscience
Der Patient beim Autorennen auf dem Bildschirm, ebenfalls gesteuert durch die Elektroden auf seinem Armstumpf
Die "Phantomfaust" öffnet sich
Die zur Steuerung verwendeten Muskeln müssen dabei nicht einmal die sein, die ursprünglich für die Bewegung verantwortlich waren. "Wir verwenden die Muskeln, die es gibt", nennt der Forscher das einfache Prinzip. "Je mehr sie mit der Bewegung zu tun hatten, desto besser. Das ist aber keine notwendige Bedingung. Mit viel Übung können Patienten Bewegungen auch mit anderen Muskeln durchführen."
So geschehen auch bei seinem Patienten. Er kann heute seinen kompletten virtuellen Arm kontrollieren: vom Ellbogen bis zu den Fingern. Nach vier Wochen Training haben sich seine Schmerzen erstmals gebessert. Nach zehn Wochen berichtete er von den ersten völlig schmerzfreien Perioden seit seinem Unfall.
Mittlerweile hat sich auch das Gefühl für seinen Phantomarm geändert, wenn er nicht Teil des Computersystems ist. Hatte er fast fünf Jahrzehnte lang das Gefühl einer streng gedrückten "Phantomfaust", so fühlt sich seine Hand heute "normal" und "offen" an.
Gehirn wird ausgetrickst
Wie das genau funktioniert, ist nicht restlos geklärt. "Von früheren Studien wissen wir aber, dass das Gehirn eine zentrale Rolle spielt", sagt Ortiz Catalan. Durch sein System werden jene, für Bewegungen zuständigen Hirnareale reaktiviert, die bei dem Patienten jahrzehntelang brachlagen. Die Ansicht des wieder vollständigen Körpers auf dem Bildschirm trickst das Gehirn aus. Es "glaubt" nun wieder an einen Arm, der die motorischen Befehle ausführt. "Und das dürfte zu der Schmerzerleichterung führen."
Bei der aktuellen Studie wurde die Rolle des Gehirns aber nicht untersucht. "Für den Patienten ist der Mechanismus egal, Hauptsache er funktioniert", sagt Ortiz Catalan. Wie lange die Wirkung ohne Training anhält, weiß der Neurowissenschaftler nicht. "Unser Patient konnte einen Monat pausieren und hat weiter weniger Schmerzen gefühlt als zuvor. Aber es braucht sicher eine bestimmte Übungsfrequenz, sonst kommt der Schmerz zurück."
Diese Frequenz sei individuell, betont der Forscher. Deshalb will er mit seinem Team als nächsten Schritt klinische Tests mit mehreren Patienten durchführen, die zum Teil weniger komplizierte Fälle sind. In diesem Rahmen ist auch an eine Kooperation mit der MedUni Wien gedacht. Generell zeigt sich Ortiz Catalan offen für Zusammenarbeit und stellt die Software ("BioPatRec") seines Projekts frei für alle zur Verfügung.
Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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