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Ein Totenkopf liegt auf einer Steinunterlage

Menschenfresser und Psychoanalyse

In den 1930er Jahren ist in Brasilien eine seltsame politische Gruppierung entstanden, die sich selbst als "Menschenfresser" (Antropofagia) bezeichnet hat. Sie knüpfte damit an eine Urangst an, die die portugiesischen Eroberer im 16. Jahrhundert hatten, und versuchte sie in der Gegenwart für ihre sozial- und kulturrevolutionären Ziele zu nutzen.

Brasilien 10.06.2014

Die Lateinamerikanistin Catrin Seefranz erklärt in einem science.ORF.at-Interview, warum die Psychoanalyse für die Antropofagia so bedeutsam war und wie sich Überbleibsel ihrer Ideen heute noch in der Integrationsdebatte wiederfinden.

Zur Person:

Die Lateinamerikanistin Catrin Seefranz hält ein Mikro in der Hand, spricht und gestikuliert

Ana Paula da Silva

Catrin Seefranz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Art Education, Zürcher Hochschule der Künste. 2013 erschien ihr Buch "Tupi Talking Cure" im LIT Verlag zur kritischen Aneignung von Freud im Brasilianischen Modernismus.

America, aus der Serie The four continents, Kupferstich, John Stafford, 1625–1635, Trustees of the British Museum

America, aus der Serie The four continents, Kupferstich, John Stafford, 1625–1635, Trustees of the British Museum

Eine Allegorie von America mit abgeknabbertem Arm (aus der Serie "The four continents", Kupferstich, John Stafford, 1625-1635, Trustees of the British Museum)

Aboporu (Menschenfresser), das ikonische Bild zur Antropofagia von Tarsila do Amaral, der Malerin und Gefährtin von Andrade zu der Zeit.

Tarsila do Amaral, Abaporu (Antropófago), 1928. Quelle: Amaral (2003: XI), Eduardo Constantini

Aboporu (Menschenfresser), das ikonische Bild zur Antropofagia von Tarsila do Amaral, der Malerin und Gefährtin von Oswald de Andrade, zu der Zeit (Quelle: Amaral (2003: XI), Eduardo Constantini)

science.ORF.at: Die portugiesischen Konquistadoren eroberten im 16. Jahrhundert große Teile Brasiliens und ermordeten einen großen Teil der Bevölkerung. Zur gleichen Zeit kam Angst vor den Kannibalen auf. Gab es diese tatsächlich oder handelte es sich vielmehr um eine Fantasie der Eroberer?

Catrin Seefranz: Dieser Frage ging der amerikanische Anthropologe William Arens in seinem Werk "The Man-Eating Myth" nach. Er verweist darauf, dass es sich bei den Erzählungen rund um die menschenfressenden Kannibalen möglicherweise um einen Mythos handelt. Innerhalb der wissenschaftlichen Community gibt es aber sehr unterschiedliche Positionen zu der Frage "did they, or did they not?".

Vermutbar wäre, dass es sich dabei um eine Projektion der Kolonialherren handelte, welche zwar nicht menschenfressend, doch aber zerstörend und unterdrückend sich Lateinamerika aneigneten.

Geklärt ist, dass das Bild des Kannibalen eine wichtige Funktion hatte. Es ließ sich damit die koloniale Gewalt rechtfertigen. Unabhängig davon, ob kannibalistische Praktiken auch tatsächlich vorkamen - in Brasilien ebenso wie in anderen Kontexten.

Sie haben letztes Jahr das Buch "Tupi Talking Cure" veröffentlicht, das die Antropofagia in Brasilien behandelt. Antropofagia steht für Menschenfresser - wer waren diese "Menschenfresser"?

Bei der Antropofagia handelte es sich um eine sozialkritische und revolutionäre Gruppe in den 1930er Jahren. Es war eine aufmüpfige avantgardistische Formation, die mit der damaligen Kultur Brasiliens in so gut wie allem auf Kriegsfuß stand: mit dem brasilianischen Staatsmotto "ordem e progresso" (Ordnung und Fortschritt), mit der Unterwürfigkeit gegenüber den Kolonialmächten, dem Katholizismus, dem Hygienismus und Indigenismo sowie mit dem Militarismus.

Die Antropofagia entstand als Antwort auf eine Kultur, die Brasilien zu einer Identifikation mit der europäischen Kultur zwang. Ich lese sie als eine politische Theorie, die gegen die repressiven Praktiken in Brasilien anschrieb. Sie war jedoch selbst in Widersprüche verstrickt: Auf der einen Seite kritisierten sie das soziale Ungleichgewicht, auf der anderen Seite waren sie an der Produktion desselbigen beteiligt; sie gehörten schließlich der absoluten Elite Brasiliens an.

Wer waren ihre Mitglieder?

Die Gruppe setzte sich aus Schriftstellern, Philosophen und Künstlern zusammen. Ihr Hauptprotagonist war Oswald de Andrade, der einer der reichsten Kaffeedynastien des Landes entstammte. Er schrieb 1928 das "Anthropofagische Manifest". Es gab auch eine eigene Zeitschrift mit dem Titel "Revista Antropofagica". Dem damals aufkommenden Indigenismo setzt die Antropofagia das Universum der Tupi polemisch entgegen.

... was bedeutet?

Beim Indigenismo wurde das Indigene im Dienste einer nationalistischen Ideologie verherrlicht und inszeniert. Es wurde dabei kein Raum für eine Selbstorganisation indigener Völker gelassen. Die Antropofagia setzte der Nostalgie der "guten Wilden" den Tupi als Paradeindigenen Brasiliens entgegen und identifizierte sich mit den Kannibalen. So kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem anderen Brasilien.

Der Untertitel Ihres Buches lautet "Zur Aneignung Freuds im anthropofagischen Modernismus Brasiliens". Welche Rolle spielte Sigmund Freud und die Psychoanalyse in diesem Prozess?

Eine sehr wichtige. Die Rezeption vollzieht sich jedoch sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite erfolgte sie ungeniert und unorthodox wie im Rahmen einer Aktion des Künstler Flavio de Carvalho: Er spazierte im Rock durch die Straßenschluchten von São Paulo und störte eine katholische Prozession, worauf er vor der Polizei auf ein Dach flüchtete und die ganze Aktion mit Freud analysierte.

Auf der anderen Seite fanden auch sehr differenzierte Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse statt. Die Antropofagia nimmt sie als Theorie mit politischen Auswirkungen ernst. Ein Beispiel dafür wären die Arbeiten des Ethnologen und Kulturpolitikers Mário de Andrade, der sich mit den massiven gesellschaftlichen Widersprüchen Brasiliens auseinandersetzte, gerade im Hinblick auf die Unterdrückung des Schwarzen und Indigenen Brasiliens.

Wie kam die Psychoanalyse überhaupt nach Brasilien?

Brasilien war das erste Land Lateinamerikas, in dem die Psychoanalyse ankam. Als die Antropofagia sich in den 1930er Jahren mit Freud auseinander setzte, hatten seine Schriften Brasilien bereits erreicht. 1899 - zur Zeit, als die Traumdeutung Freuds erschien - hielt der schwarze Psychiater Juliano Moreira eine Vorlesung in Bezug auf Sigmund Freud im sozial unterdrückten Nordosten Brasiliens. Er war es auch, der Reformen im Bereich der klinischen Psychiatrie einleitete. Dabei richtete er seine Bemühungen gegen rassistische und genetische Vorstellungen, die das medizinische Feld durchzogen.

Die Psychoanalyse fand also über die Medizin nach Brasilien?

Als erstes schon. Die Psychoanalyse befindet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf weltumspannenden Expansionskurs, wobei dies in Brasilien nach Moreira vor allem durch den Psychiater Durval Marcondes erfolgte. Er bewegte sich erfolgreich im Spannungsfeld von Psychoanalyse, Psychiatrie und Kunst, wobei er dem engsten Kreis um Oswald de Andrade angehörte. Er war es, der die Psychoanalytische Vereinigung in Sao Paulo gründete.

Bedeutete das nicht einen Widerspruch?

Durchaus. Die Aneignung der Psychoanalyse erfolgte sehr ambivalent. Auf der einen Seite wurde sie zur "strategischen Allianz" gegen die gesellschaftlichen Übereinkünfte, auf der anderen Seite wurde Freud zum "heiligen Feind", wie es Oswald de Andrade formulierte.

Die Antropofagia geht also auch sehr angriffslustig gegenüber Freud in Opposition: Lassen sich doch Parallelen zwischen Kolonialismus und dem Expansionskurs der Psychoanalyse erkennen. Dabei werden mitunter groteske Fehllektüren erzeugt, was aber auch eine kritische Lesart bewirkt, die ich für relevant und produktiv halte.

Wie ging es mit der Antropofagia weiter?

Mit Getúlio Vargas entstand in den 1930er Jahren ein brasilianischer Staat mit diktatorischen Elementen, in welchem die Antropofagia immer mehr an Bedeutung verlor. 30 Jahre später wiederum entstand als Reaktion auf die vorherrschende Militärdiktatur der Tropicalismo, welcher die Antropofagia für sich entdeckte. In diesem Rahmen lebte ihr revolutionärer und befreiender Geist wieder auf.

Wenn wir auf die Gegenwart blicken. Gibt es Anknüpfungspunkte für die Antropofagia heute?

Die Antropofagia ist ein Klassiker der lateinamerikanischen Kulturgeschichte geworden, auf den international viel Bezug genommen wird, vor allem auch in der Bildenden Kunst. Eine sehr spannende Anknüpfung gibt es auch im Aktivismus rund um das Thema Migration. Dabei werden die Zumutungen des Integrationsmodells nach dem Motto: "Ihr, die Anderen müsst euch anpassen, brav sein und euch integrieren, also gute Wilde werden" zurückgewiesen.

Dem entgegen findet eine Anknüpfung an die Antropofagia statt, die sich mit der Zuschreibung des Fremden identifizierte und meinte: "Wir lassen uns nicht fressen, wir sind anders und wollen auch anders bleiben." Das politische Modell dahinter ist keines der Integration, sondern eines der permanenten Veränderung, die sich aus der Anerkennung von Differenz ergibt.

Es wäre also kein Fressen und Gefressen werden, sondern vielmehr ein gegenseitiges Kosten, ohne den Anderen zu zerstören und ihm die eigene Position aufzudrücken, was letztendlich Unterdrückung bedeuten würde.

Richtig. Es wäre eine Kultur, die Pluralität aushält und in welcher sich auf den Anderen bezogen werden kann - ohne Auffressen, ohne Zerstörung. Eine solche Kultur würde das Andere suchen, vor allem auch in sich selbst, weil sie erkennt, dass sie sich daran entwickeln und etwas lernen kann. Das gilt natürlich für beide Seiten.

Interview: Aaron Salzer, science.ORF.at

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