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Zwei Hände mit Papiermännchen

Ein einzigartiges Echtzeit-Experiment

In den 1970er Jahren haben von Geburt gehörlose Kinder in Nicaragua begonnen, eine eigene Zeichensprache zu erfinden. Seit damals wird sie von Generation zu Generation weitergegeben. Sie verändert sich laufend, aus einfachen Gesten ist mittlerweile ein strukturiertes sprachliches System geworden.

Gebärdensprache 19.05.2014

Der Prozess wird fast von Beginn an von Forschern begleitet und dokumentiert. Ann Senghas vom Language Acquisition and Development Laboratory an der Columbia University ist eine von ihnen. Seit 1990 ist sie dabei und verbringt seit damals jedes Jahr mindestens einen Monat in Nicaragua. Bis heute ist sie dankbar für diese einzigartige Möglichkeit. "Es ist, als wäre man ein Zeitreisender", beschreibt sie ihre Erfahrungen.

Ö1 Sendungshinweis:

Dem Thema Sprache und Evolution widmen sich auch die Dimensionen am 21. Mai 2014 um 19:05.

Die Sprache verändere sich in einer Generation so enorm. Das entspreche etwa hunderten Jahren bei schon lang existierenden gesprochenen Sprachen. Begonnen hat alles mit einer Gruppe von 25 Jugendlichen, heute sind es 1.300 bis 1.400 Menschen, die als Erstsprache die neu entwickelte Gebärdensprache verwenden. Sie sind zwischen vier und fünfzig Jahren alt.

Seltene Gelegenheit

Die Entstehung einer Sprache kann man in der Regel nicht live beobachten. Auch Experimente mit sprachlosen Menschen sind praktisch wie ethisch schlecht umsetzbar. Es gibt keine natürlichen Bedingungen, unter welchen mehrere Menschen von ihrer sprachlichen Umwelt komplett isoliert sind, außer bei Gehörlosigkeit.

In Nicaragua hat der Zufall zu der Live-Genese geführt. Vor den 1970er Jahren gab es dort kaum Kontakt zwischen Gehörlosen. Sie erhielten auch keinerlei sprachliche Schulung. 1977 wurde dann ein Ausbildungsprogramm ins Leben gerufen, wo Jugendliche Spanisch und Lippenlesen lernen sollten. Das hat allerdings nicht wirklich funktioniert. Um sich trotzdem miteinander verständigen zu können, haben sie begonnen, ein eigenes Inventar von Zeichen zu verwenden. Vorerst dominierten einfache, oft ikonische Gebärden, die die Heranwachsenden zum Teil von zuhause kannten.

Als dem Personal klar wurde, dass ihr Programm nicht zu dem gewünschten Ergebnis führte und sie die Schüler nicht mehr verstanden, baten sie um Hilfe und zwar bei der US-amerikanischen Linguistin Judy Kegl, einer Spezialistin für Zeichensprache. Erst da wurde deutlich, was hier gerade passierte: Eine neue Sprache entstand, die "Idioma de Signos Nicaragüense". Dass Gebärdensprachen voll funktionierende sprachliche Systeme sein können, gilt heute als anerkannte wissenschaftliche Tatsache.

Neue grammatikalische Elemente

Ab diesem Zeitpunkt wird die Entwicklung von Generation zu Generation genauestens dokumentiert. Es ist erstaunlich, wie rasch die Veränderungen in Richtung sprachlicher Struktur vor sich gehen. Ann Senghas untersucht z.B. die grammatikalische Satzstruktur. Die ersten Generation verwendete ihr zufolge eine sehr starre Wortordnung mit Sätzen wie "Mann geben", also ein Zeichen für "Mann" gefolgt von einem für "geben", oder "Frau bekommen".

"Die nächsten Kinder, die Mitte der 1980er aufwuchsen, haben begonnen, grammatikalische Markierungen zu verwenden, so dass man den Mann mit dem Geben oder die Frau mit dem Bekommen assoziieren konnte", erklärt die Psychologin. Sobald diese grammatikalischen Elemente da waren, änderte sich die Wortordnung, die Verben wanderten ans Ende des Satzes. D.h., die Art wie man Objekt und Subjekt in einem Satz erkennbar macht, verschob sich von einer reinen Ordnungsstrategie zu einer grammatikalischen.

Typische Grammatikalisierung

Eine andere interessante Entwicklung zeigt die Verwendung von Zeigegesten. Vorerst wurden diese ähnlich wie von "normal" sprechenden Menschen eingesetzt, nämlich einfach, um auf jemanden oder etwas zu zeigen. Später, etwa in den frühen 1990ern, wurde daraus eine Art Personalpronomen. Die Zeigegeste bezog sich nun beispielsweise auf jemanden, der gerade erwähnt wurde, so wie in "Er sagte …".

Senghas beschreibt einen weiteren typischen Grammatikalisierungsprozess, den die Generationen in Nicaragua durchlaufen, nämlich den der Segmentierung. Sprache ist im Gegensatz zu Bildern oder Gesten nicht analog, sondern in gewisser Weise digital, Wörter, Sätze oder Texte bestehen aus vielen kleinen Bausteinen. Diesem Grundprinzip folgt auch die Entwicklung in der nicaraguanischen Zeichensprache.

Dort werden ganzheitliche und ikonische Gesten im Lauf der Zeit in Bedeutungsbestandteile zerlegt. Beschreibt man etwa den Begriff des Hinunterrollens mit den Händen, macht man in der Regel nur eine Bewegung, die alles beinhaltet. Sprache funktioniert anders: "Sprache besteht aus einfachen Elementen, die wie Bausteine zu unterschiedlichen Konstruktionen wie z.B. Sätzen, zusammengebaut werden. Also zerlegten die gehörlosen Kinder die ganzheitliche Geste in ihre Teile, in ein Rollen und in ein Runter", erklärt Senghas.

Die Mitglieder der Sprachgemeinschaft machen - wenn sie heute über "Hinunterrollen" sprechen - keine Geste mehr, bei der alles ähnlich ist wie in der richtigen Welt. Sie produzieren eine Rollgeste, gefolgt von einer Abwärtsgeste. Das zeige, dass sogar dann, wenn man dem System etwas Analoges oder Ikonisches liefert, etwas anderes rauskommt, nämlich etwas Segmentiertes, Digitales und Diskretes. Die einzelnen Teile lassen sich dann anderweitig wiederverwenden, die Abwärtsgeste findet sich dann in Begriffen wie "Hinuntergehen, hinunterfallen, etc." wieder. So entstehe ein bei weitem effizienteres System, mit dem man viel mehr Sätze erzeugen und beliebige Inhalte ausdrücken kann.

Sprache macht sozial

Ein System wie dieses hat große Vorteile für die Kommunikation, man kann damit einfach mehr mitteilen. Für Senghas ist der Druck, innerhalb einer sozialen Gruppe zu kommunizieren, einer der entscheidenden Zwänge oder Voraussetzungen bei der Entstehung der Gebärdensprache. Zudem bringe das Gehirn des modernen Menschen die grundsätzliche Befähigung, eine Sprache zu lernen, schon mit sich. Darauf setze die Gebärdensprache der Gehörlosen auf. Es ist also nur natürlich, dass diese eine ähnliche Struktur entwickelt, wie sie auch andere natürliche Sprachen haben.

Die ganze Entwicklung ist nicht nur wissenschaftlich interessant, sie zeigt auch, wie hilfreich Sprache in der Gesellschaft ist. "Wenn man Gehörlose im Alter von 60 Jahren oder älter betrachtet, sieht man die Auswirkungen ihrer Sprachlosigkeit. Sie sind mehr oder weniger ausgeschlossen vom Sozialleben und völlig isoliert", erklärt Senghas die Bedeutung der Mitteilungsmöglichkeiten. Viele jüngere Gehörlose, also die Sprecher der Gebärdensprache, haben Arbeit und Familie. Sie sind sozial integriert und führen völlig normale Leben.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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