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Faust-Aufführung im Burgtheater 2009, Szenenbild Faust und Mephistopheles

Goethes Faust als Global Player

Goethes "Faust" ist nicht nur einer der Klassiker der deutschen Literatur, man kann ihn auch als hellsichtige Kapitalismuskritik lesen. Im Drama und in der Figur des enttäuschten Gelehrten werden die Schattenseiten eines rücksichtslosen Wirtschaftswachstums gewissermaßen vorweggenommen.

Gesellschaftskritik 20.06.2014

Im Drama tritt Faust unter anderem als global denkender Unternehmer und Wirtschaftstheoretiker auf. Er hat die entscheidende Rolle der Wirtschaft im Formationsprozess der Moderne erkannt. Der Gelehrte, dem die akademische Welt zu eng wurde, betätigt sich als Tycoon, der das Wirtschaftswachstum vorantreibt.

Der in St. Gallen emeritierte Ökonom Hans Christoph Binswanger bezeichnet Goethe als Kassandra, die in der Gestalt von Faust die Nachtseiten des sich entfaltenden Kapitalismus aufzeigt. Die Gier nach immer mehr, die eine zerstörerische Dynamik in Gang setzt, wird in Goethes Drama plastisch dargestellt.

Veranstaltung:

Die ökonomischen Aspekte in Goethes „Faust“ standen im Zentrum eines Symposiums, das in Staufen/Breisgau veranstaltet wurde: Faust-Symposium 2014: "Goethes 'Faust' als Protagonist der Entgrenzung. Befunde und Analysen", veranstaltet von der Internationalen Faust-Gesellschaft. Organisator: Marco Lehmann-Waffenschmidt von der Technischen Universität Dresden; Staufen im Breisgau, 8. bis 10. Mai 2014.

Literaturhinweise:

Johann Wolfgang von Goethe: Faust: Zwei Teilbände. Texte und Kommentare, Herausgeber: Albrecht Schöne, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch
Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust. Murmann Verlag
Ulrich Gaier,: Kommentar zu Goethes Faust, Reclam Verlag
Ulrich Gaier: Lesarten von Goethes Faust, edition isele
Michael Jaeger: Global Player Faust oder das verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes, Verlag Königshausen & Neumann
Marco Lehmann-Waffenschmidt: Die ökonomische Botschaft in Goethes "Faust", Dresden Discussion Paper Series in Economics, Faculty of Business and Economics, TU Dresden
Oskar Negt: Die Faust Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer, Steidl Verlag

Staatsbankrott

Der Ausgangspunkt der ökonomischen Reflexionen findet sich in einer Bemerkung von Mephistopheles: "Wo fehlts nicht irgendwo auf dieser Welt? Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld." Der Schauplatz dieser Überlegung ist der Hof des Kaisers, der durch seine Verschwendungssucht den Staat finanziell ruiniert hat. Das Geld wurde hemmungslos verprasst; Korruption und rücksichtsloser Egoismus sind omnipräsent. Die Folgen dieser Misswirtschaft werden von Goethe drastisch beschrieben: "Die Schweine kommen nicht zu Fette/ Gepfändet ist der Pfühl im Bette/ Und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot."

Goethe als Finanzberater

Mit ökonomischen Fragen setzte sich Goethe nicht nur theoretisch auseinander: Als eifriger Leser von Wirtschaftsjournalen war er mit den wichtigsten ökonomischen Theorien seiner Zeit vertraut. Diese Kenntnis half ihm dann bei seiner Tätigkeit als "Geheimer Rat" des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, der auch für das Finanzwesen zuständig war.

Der Kleinstaat stand am Rande des Staatsbankrotts, den Goethe durch eine konsequente Umschuldungs- und Sparpolitik verhindern konnte; die Gläubiger des Herzogs mussten auf ihre Forderungen verzichten, im Gegenzug verpflichtete sich der Herzog zu rigorosen Sparmaßnahmen.

Letzte Rettung: Einführung des Papiergelds

Im Drama machen Faust und Mephisto dem Kaiser angesichts des drohenden Staatsbankrotts ein Angebot, das Münzgeld durch Papiergeld zu ersetzen. "Zu wissen sei es jedem, ders begehrt/Der Zettel hier ist tausend Kronen wert", lautet die frohe Kunde.

Das Papiergeld weist einen großen Vorteil für die Staatsfinanzen auf, wie der Volkswirtschaftler Marco Lehmann- Waffenschmidt von der Technischen Universität Dresden betont. Es ist nur durch die Unterschrift des Kaisers autorisiert. Das veranlasst den Hofnarren zu der sarkastischen Bemerkung, lieber "ein Schloss mit Wald und Jagd und Fischbach" zu erwerben.

Faust als Großunternehmer

Doch Faust begnügt sich nicht mit seiner Rolle als genialer Finanzberater des Kaisers, er fühlt sich zu Höherem berufen: "Dieser Erdenkreis/ Gewährt noch Raum zu großen Taten." Sein Ziel besteht darin, möglichst viel Eigentum zu erwerben und somit auch Herrschaft über ganze Landstriche zu erlangen.

Faust mutiert zum Großunternehmer, der das Wattenmeer, das er vom Kaiser zum Dank für treue Dienste erhalten hat, trockenlegen lässt, um Land zu gewinnen. ("Das herrische Meer vom Ufer auszuschließen/ der feuchten Breite Grenzen zu verengen").

"Nur rastlos betätigt sich der Mann"

Fausts Karriere als dynamischer Unternehmer hat der Soziologe Oskar Negt in einer umfangreichen Studie nachgezeichnet. Darin bezeichnet er Fausts ruheloses Streben nach immer größerem Besitz als einen typischen Charakterzug der kapitalistischen Profitgier, die das menschliche Dasein in zunehmendem Maß bestimme.

"Der Geist des Kapitalismus zieht sich wie ein roter Faden durch beide Teile des 'Faust'", konstatiert Negt. Die Devise lautet: "Immer vorwärts! - Nur rastlos betätigt sich der Mann"; für Muße bleibt keine Zeit: "Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen/So sei es gleich um mich getan."

"Alles Ständische und Stehende verdampft"

Die Verwertungslogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems bringt bereits Mephistopheles auf den Punkt: "Ich bin der Geist, der stets verneint!/Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,/Ist wert, dass es zu Grunde geht."

Was dabei zu Grunde geht, haben Friedrich Engels und Karl Marx im Kommunistischen Manifest folgendermaßen beschrieben: "Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht."

Der Gebrauchswert, der bisher das gesellschaftliche Leben bestimmte, wird durch den Tauschwert und das Universaläquivalent Geld ersetzt. Das Geld verleiht eine magische Qualität; wer es besitzt, verfügt über bisher ungeahnte Kräfte: "Wenn ich sechs Hengste zahlen kann/Sind ihre Kräfte nicht die meine?/Ich renne zu und bin ein reicher Mann/Als hätt´ ich vier und zwanzig Beine."

Die magische Qualität des Geldes

Faust als "Global Player" und Großunternehmer steht an vorderster Front der entfesselten kapitalistischen Dynamik, die ebenfalls im Kommunistischen Manifest geschildert wird:

"Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile und die Schiffbarmachung der Flüsse" sind jene gewaltigen Produktions- und Verkehrsmittel, die eine Neuordnung der alten Welt ermöglichen. Goethe spricht von dem "Veloziferischen" (eine Wortschöpfung Goethes, Anm.), von der Beschleunigungstendenz, die alles Bestehende "verspeist".

Faust als Aggressor

Der Sog des "Veloziferischen" verschlingt in seinem Furor nicht nur ökonomische und ökologische Ressourcen, sondern zerstört auch gewachsene Traditionen, worauf der an der Freien Universität in Berlin lehrende Germanist Michael Jaeger hinwies.

Besonders deutlich wird das am Beispiel des alten Ehepaars Philemon und Baucis, das harmonisch in einer Hütte am Rande von Fausts Damm- und Kanalbaustelle wohnt. Die Hütte und die Kapelle sind die Symbole für die alte Ordnung; sie stellen für den auf Expansion bedachten Faust ein stetiges Ärgernis dar: "Verdammtes Läuten! Allzu schändlich/Verwundets wie ein tückisch Schuss/Vor Augen ist mein Reich unendlich/Im Rücken neckt mich der Verdruss/Erinnert mich durch neidische Laute/Mein Hochbesitz/Er ist nicht rein."

Der Kapitalismus ist eine blutige Macht

Als lupenreiner kapitalistischer Unternehmer weiß sich Faust zu helfen: Er gibt den Mordgesellen Raufebold, Habebald und Haltefest den Auftrag, die Umsiedlung des Ehepaars voranzutreiben: "So geht und schafft sie mir zur Seite!" Die Söldner des Kapitals nehmen den Auftrag wörtlich und zünden die Hütte an, in der Philemon und Baucis verbrennen. Faust ist mit der brutalen Vorgangsweise nicht einverstanden, aber - wo gehobelt wird, fallen auch Späne.

Die globale Expansion der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist nicht nur mit Kollateralschäden verbunden, die gewachsene soziale Strukturen auflösen und die Natur zerstören, sondern auch mit Gewalt und Terror, die sich gegen die Dissidenten des Wirtschaftswachstums um jeden Preis richten. Karl Marx hat die Quintessenz von Goethes "Faust" im 1. Band des "Kapitals" so zusammengefasst: "Die Geschichte dieser Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer."

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft

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