Standort: science.ORF.at / Meldung: "Großer Hypothesenputz in der Psychologie"

Gezeichnet Bild eines menschlichen Kopfes, der als Puzzle dargestellt wird, einige Puzzleteile fehlen

Großer Hypothesenputz in der Psychologie

In manchen Fächern werden Experimente selten oder gar nicht wiederholt. Eine Praxis, die den Erkenntnisfortschritt bedrohe, sagen Kritiker. Psychologen haben nun begonnen, ältere Studien im großen Stil zu überprüfen - mit überraschenden Resultaten: So mancher Hypothese geht es jetzt an den Kragen.

Widerlegungen 11.06.2014

Die Reproduzierbarkeit von Experimenten ist, so heißt es, ein bedeutender Eckpfeiler der Wissenschaft. Denn erst durch die Wiederholung würden Fehler aufgedeckt und Zufallsbefunde von verlässlichen Erkenntnissen getrennt. In der Theorie. Praktisch sieht es durchaus anders aus, worauf John Ioannidis von der Stanford University School of Medicine hinzuweisen nicht müde wird.

Ioannidis ist der große Skeptiker im Wissenschaftsbetrieb, er überprüft in regelmäßigen Abständen, ob sich Forscher abseits der Sonntagsrede tatsächlich jener Kritik der Fachkollegen aussetzen, die nötig wäre, um ihre eigenen Erkenntnisse abzusichern. Und ebenso regelmäßig lautet die Antwort des US-Mediziners: Nein, tun sie nicht. 2005 berichtete er etwa, dass die Hälfte aller wissenschaftlichen Studien falsch sein könnten, vor allem wegen methodischer Fehler, die den Autoren unterlaufen würden.

Ähnlich ernüchternd ist das Ergebnis einer Untersuchung im Fachbereich Krebsforschung. Wie die beiden Mediziner Glenn Begley und Lee Ellis 2012 im Journal "Nature" berichteten, ließen sich von 53 untersuchten Studien nur sechs vollständig reproduzieren.

Klassiker auf dem Prüfstand

Immerhin, könnte man sagen, denn in anderen Fächern wird nicht einmal das versucht. In der Psychologie, diagnostizierte Matthew Makel von der Duke University vorletztes Jahr, betrage der Anteil der Wiederholungsstudien gerade mal 1,07 Prozent. Denn: Durch die Überprüfung dessen, was bereits andere zuvor gemacht haben, lässt sich in vielen Fällen kein Preis gewinnen. Wiewohl gerade das wichtig wäre, betont Ioannidis: "Wir haben zurzeit eine sehr einseitige Betonung der 'ersten Entdeckungen' - ihre Wiederholung sollte jedoch ebenso viel Beachtung finden."

In seinem Sinne dürfte wohl eine Initiative sein, die 50 Psychologen aus aller Welt gestartet haben. Das "Many Labs Project" hat sich zum Ziel gesetzt, psychologische Studien zu wiederholen - und zwar nicht irgendwelche Studien, sondern "Klassiker" des Fachs, wie die Forscher schreiben.

Die Resultate sind in einer frei zugänglichen Sondernummer des Fachjournals "Social Psychology" nachzulesen. Von 13 überprüften Effekten ließen sich immerhin 10 vollständig reproduzieren, darunter etwa die Erkenntnis, dass Sportfans eher bereit sind, ein Match im Stadion trotz grimmiger Kälte zu besuchen, wenn sie dafür bezahlt haben und eher zu Hause bleiben, wenn die Tickets gratis waren.

Ebenfalls bestätigt wurde ein Effekt, der in Spielerkreisen von Bedeutung sein könnte: Eine Doppelsechs beim Würfeln hinterlässt im Gedächtnis des Beobachters einen stärkeren Eindruck als andere Kombinationen und verzerrt daher die rückblickende Analyse.

Vermutungen und Widerlegungen

Abseits des "Many Labs Project" haben auch andere Forscherteams Beiträge zur aktuellen Ausgabe von "Social Psychology" beigesteuert. Bestätigt wurde etwa eine klassische Studie aus dem Jahr 1951, die in der Fachliteratur unter dem Begriff "deviation rejection" firmiert und so viel besagt wie: Wer sich konstant gegen die Gruppennormen auflehnt, wird über kurz oder lang in dieser Gruppe wenig zu sagen haben und darin auch nicht die besten Sozialkontakte unterhalten.

Stimmt, schreiben Forscher um den Niederländischen Psychologen Eric Wesselman: Abweichler haben es auch heute noch schwer, wenngleich der Effekt klar schwächer ist als anno 1951. Ein Zeichen für Sinneswandel in Richtung Toleranz? Ein Fall für eine Folgestudie (und eine Wiederholung derselben).

Dass manche Hypothesen nach Überprüfung wieder verworfen werden, liegt in der Natur der Sache. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, das gilt auch in der Wissenschaftstheorie. Gleichwohl scheint es so, als hätte es nun die besonders hübschen Hypothesen erwischt.

Etwa eine, die auf Lawrence Williams und John Bargh zurückgeht. Die beiden US-Psychologen drückten ihren Probanden 2008 eine Tasse Kaffee in die Hand und fanden heraus, dass die Temperatur das Gemüt beeinflusst. War der Kaffee heiß, agierten die Testpersonen großzügiger und behutsamer als mit kaltem Kaffee. Dass physische Wärme etwas mit Herzenswärme zu tun haben könnte, war zweifelsohne eine schöne Geschichte - leider eine, die sich nicht ohne weiteres bestätigen ließ.

Ähnliches gilt für den sogenannten Romeo-und-Julia-Effekt. Er besagt, dass die Liebe zwischen Mann und Frau noch intensiver wird, sofern die Eltern - wie in der literarischen Vorlage - strikt gegen diese Romanze sind. Das scheint laut letzten Erkenntnissen ebenfalls nicht zu stimmen. Und das im Shakespeare-Jahr.

Robert Czepel, science.ORF.at

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