Als "eine Art Fetisch" beschreibt Reinhilde Veugelers das europäische Streben nach mehr industrieller Produktion. Von heute 16 Prozent, soll ihr Anteil am europäischen Bruttoinlandsprodukt laut EU-Strategie auf 20 Prozent steigen. Dabei sei aber weniger das Ausmaß der Produktion, als viel mehr Art und Qualität der erzeugten Güter entscheidend, so die Ökonomin im Interview mit science.ORF.at.
science.ORF.at: Während in Ihrem Arbeitskreis in Alpbach diskutiert werden soll, wie die Kosten für internationalen Warenaustausch gering gehalten werden können, fragen sich andere, ob es nicht an der Zeit ist, stärker auf regionale Produktion und Handel zu setzen. Nicht zuletzt aus Umweltschutzgründen. Wie passt das zusammen?
Zur Person:

Reinhilde Veugelers
Reinhilde Veugelers ist Ökonomin und Professorin am Institut für Management, Strategie und Innovation an der Universität Leuven in Belgien. Sie ist außerdem Senior Fellow beim europäischen, auf Wirtschaft spezialisierten Think-Tank Bruegel. Veugelers ist auch Mitglied der Royal Flemish Academy of Belgium for Sciences. Reinhilde Veugelers ist außerdem Mitglied des ERA Council Forum Austria, das Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP), in europäischen Forschungsbelangen und -strategien berät.
Technologiegespräche Alpbach:
Von 21. bis 23. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1 -Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Forschung und Innovation at the crossroads". Davor erscheinen in science.ORF.at Interviews mit den bei den Technologiegesprächen vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Reinhilde Veugelers wird am Arbeitskreis "Agile and robuste supply chain" als Expertin teilnehmen.
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Reinhilde Veugelers: Wir haben in unseren Untersuchungen herausgefunden, dass es bei europäischen Unternehmen eine Tendenz gibt, die Wertschöpfungskette hauptsächlich auf europäischer Ebene aufzubauen. Wenngleich das auch Nachteile, wie etwa eine geringere Zahl an potenziellen Partnern birgt, so haben diese Unternehmen wirtschaftliche dennoch keinen Nachteil gegenüber jenen, die global agieren. Sie sind genauso produktiv.
Wir interpretieren das so, dass Europa durchaus eine Alternative zum globalen Markt darstellt. Denn Vorteile wie die räumliche und kulturelle Nähe oder die einfachere Koordination kompensieren die geringere Auswahl an Handelspartnern durchaus. Was man aber auch sagen muss, ist, dass mithilfe der digitalen Kommunikation auch der internationale Handel leichter und klimafreundlicher geworden ist.
Aber wenn es nicht nur um Koordination, sondern um Warenaustausch geht, müssen die Produkte ja von A nach B transportiert werden. Wo ist derzeit Europas Platz in dieser internationalen Wertschöpfungskette?
Dinge auf einer globalen Ebene zu organisieren, bringt Wachstum und größere Wertschöpfung. Aber man muss sich fragen: Wer verdient daran? Sind es die europäischen Unternehmen? Wir gehen zumeist davon aus, dass es notwendig ist, weit oben in der Wertschöpfungskette zu stehen. Wie Apple zum Beispiel. Sie besitzen die Marke, das Design, die Technik und erzielen die komplette Wertschöpfung aus dem Produkt. Das heißt aber nicht, dass man immer in dieser Position sein muss, um erfolgreich zu sein.
Wir haben herausgefunden, dass es genauso sinnvoll ist, einzelne und vor allem einzigartige Komponenten für ein Produkt herzustellen, die keiner nachahmen kann. So können auch kleinere Player bzw. kleinere Länder produktiv sein und große Wertschöpfung erzielen. Man muss sich auf Nischen konzentrieren, die auf speziellem Know-How und Anerkennung basieren.
Wie wichtig ist die industrielle Produktion überhaupt als ökonomische Basis für Europa? Oft ist ja auch von einer "Dienstleistungsgesellschaft " die Rede.
Es gibt viele Leute, die der Meinung sind, es brauche eine starke Produktionsfähigkeit, sonst drohe ein Kontrollverlust. Andere behaupten, die Zukunft Europas läge im Dienstleistungssektor. Meine Antwort ist immer: Die Zukunft liegt in Produkten mit hohem Mehrwert. Also in spezifischen Gütern, mit denen sich eine hohe Wertschöpfung erzielen lässt und die keiner in kurzer Zeit nachmachen kann. Das kann sowohl im Bereich der Produktion als auch im Bereich der Dienstleistung angesiedelt sein.
Da ein Großteil der gewöhnlichen, industriellen Produktionsprozesse inzwischen standardisiert abläuft, lässt sich damit keine große Wertschöpfung mehr erzielen, und der Wettbewerb ist zu groß. Deshalb muss man sich auf spezifische Komponenten konzentrieren.
Ist eine Wirtschaft, die ohne Produktion auskommt, für Sie denkbar?
Das wäre sehr ungewöhnlich und würde nicht funktionieren. Aber ich glaube auch, dass dieser Fetisch, wonach die industrielle Produktion 20 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts betragen soll - und dieses Ziel haben wir ja derzeit - keinen Sinn macht. Es geht nur darum, welche Art der Produktion man hat. Insofern glaube ich, dass man sehr wohl ohne die standardisierte Produktion auskommen kann, nicht aber ohne eine spezialisierte.
Das macht aber auch eine Diskussion um die Ausbildung für solche Jobs notwendig. Es werden mehr höher qualifizierte Menschen benötigt.
Man muss einerseits dafür sorgen, dass die neue Generation die richtige Ausbildung erhält und sich die notwendigen Skills aneignet. Andererseits muss man sich auch Gedanken darüber machen, wie man jene Leute, die bereits am Arbeitsmarkt sind, weiterbilden kann, sodass auch sie über die notwendigen Fähigkeiten verfügen. Denn dieser Wandel in der Produktion wird vor allem einfache, lokale Jobs überflüssig machen.
Aber wenn man sich heute in Europa umschaut: Es gibt sehr viele, sehr gut ausgebildete Menschen, etwa in Spanien, die dennoch keine Arbeit finden.
Hier ist es wichtig, dass wir die europäische Karte spielen. Es wird nicht funktionieren, diese spezifischen Fähigkeiten nur auf lokaler Ebene zu suchen und anzubieten. Es braucht eine starke Mobilität, sodass Unternehmen überall in Europa Arbeitskräfte und Fähigkeiten rekrutieren können.
Wir brauchen einen starken Binnenmarkt - nicht nur bei Produktion und Dienstleistungen, sondern auch was die Fähigkeiten betrifft. Das erfordert auch eine stärkere Mobilität von Forschern in Europa. Dafür ist es notwendig, alle Beschränkungen und Barrieren, die wir in Bezug auf die innereuropäische Migration haben, zu beseitigen. Nicht nur legislativ, sondern auch in der Praxis. Denn derzeit ist die Mobilität noch viel zu gering.
Ein anderer Punkt ist, dass viele Staaten auf ihren nationalen Standortvorteil bedacht sind. Das steht doch in jeder Hinsicht dieser "europäischen Karte ", die Sie spielen wollen, entgegen.
Diese protektionistische, nationalistische Perspektive ist in der Tat die größte Gefahr. Sowohl am Arbeitsmarkt wie auch in der Produktion und im Dienstleistungssektor. Das ist aber eine sehr kurzsichtige Sichtweise. Deshalb müssen wir längerfristig denken und in Mobilität und Ausbildung investieren.
Ein andere Sache sind die Energiepreise. In Österreich verlagern namhafte Industriebetriebe ihre Produktionsstätten zunehmend auf andere Kontinente, mit Verweis auf die niedrigeren Energiepreise. Wie soll Europa mit diesem Phänomen umgehen?
Das ist auch in Brüssel ein Dauerthema. Die Energiekosten können in verschiedenen Sektoren eine kritische Komponente im Wettbewerb sein. Insbesondere in der chemischen Industrie ist das ein Thema. Dennoch: Die Energiekosten sind nur ein geringer Teil in der Gesamtkostenstruktur der Unternehmen. Das ändert aber nichts daran, dass wir einen zu fragmentierten, national unterschiedlichen Energiemarkt haben.
Was wir brauchen, ist ein gemeinsamer, effizienter Binnenmarkt. Aber auch hier beeinträchtigt die nationale Perspektive eine europäische Dimension. Wenn wir alle diese Barrieren beseitigen und einen gemeinsamen, integrierten Markt schaffen, wären die Energiepreise niedriger. Und das wäre der beste Weg vorwärts.
Darüber wäre die Industrie sicher glücklich. Gleichzeitig gibt es auch viele Stimmen in Europa, die sich aus Gründen des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit für deutlich höhere Energiepreise aussprechen.
Wenn wir über Kosteneffizienz im Energiebereich sprechen, dürfen wir das auch nicht kurzfristig betrachten. Es wäre keine gute Strategie, jetzt niedrige Energiepreise zu schaffen, wenn das gleichzeitig eine massive Umweltbelastung bedeuten würde. Insofern müssen wir auch die Kosten für die Umweltverschmutzung mit einberechnen und so zum kosteneffizientesten Modell kommen. Das funktioniert aber auf einer europäischen Ebene viel besser als auf einer nationalen. Nur so können wir mehr saubere Energie und grüne Technologien am europäischen Markt etablieren.
Was wirklich viel Energie braucht, sind "alte Technologien ". In einem Paper, das von Ihrem Think-Tank herausgegeben wird, ist von einer "Pipeline voll mit neuen Technologien", die wichtig für Europa sind, die Rede. Welche sind das?
Wir haben leider die Tendenz, vom Bestehenden und einer Verbesserung dieser Technologien, auszugehen. Ich glaube aber, dass wir hier viel revolutionärer denken müssen. Alleine wenn wir daran denken, welche Möglichkeiten uns der 3D-Drucker eröffnet hat, ist das fantastisch. Und er ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Produktionskapazitäten eines Landes unwichtiger werden.
Denn wenn wir Möglichkeiten finden, diese Technik in einem großen Maßstab anzuwenden, kann jeder Einzelne alles produzieren, was er will. Auch im Bereich der Bio- und Nanotechnologie wird sich noch sehr viel tun. Insofern warne ich davor, immer zu glauben, wir hätten schon alles gesehen.
Eine grundlegende Frage stellt sich aber in jedem Fall: Die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstums ist ein unumstößlicher Glaubenssatz in unserem Wirtschaftssystem. Aber sind wir nicht inzwischen an einem Punkt angekommen, wo es notwendig wäre, über Grenzen des Wachstums nachzudenken?
In dem Zusammenhang ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft wissen, was wir für die Zukunft wollen, welche Art der Wohlfahrt. Und anhand dessen müssen wir berechnen, wie viel Wachstum notwendig ist, um all die Leistungen, die von der Gesellschaft erwartet werden, abzudecken.
Und ich stimme Ihnen völlig zu: Es ist nicht sinnvoll, das aus einer rein ökonomischen Perspektive zu betrachten, wir brauchen einen breiteren Begriff von Wachstum. Dabei muss es auch um Nachhaltigkeit und die soziale Dimension gehen. Aber das kann niemals heißen, kein Wachstum mehr zu haben. Denn ohne dem sind die notwendigen staatlichen Leistungen nicht finanzierbar.
Haben Sie das Gefühl, dass diese "soziale Dimension" weit oben auf der EU-Agenda steht? Schaut man sich etwa Griechenland und die dramatische Situation in der dortigen Gesundheitsversorgung an, gewinnt man einen anderen Eindruck.
Auch hier ist das Problem die kurzfristige Perspektive der Politik. Die Daten und Informationen, die es brauchen würde, um das von Seiten der Politik besser zu organisieren, gibt es. Das Problem ist nur, hier längerfristig zu planen, ist den meisten zu kompliziert und zu langwierig. Denn das würde Änderungen im System notwendig machen.
Es diskutieren zwar alle darüber, aber niemand unternimmt etwas. Deshalb ist es wichtig, dieses Thema nicht nur der Politik zu überlassen. Es braucht auch eine breite, gesellschaftliche Debatte.
Interview: Theresa Aigner, science.ORF.at