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Der australische Historiker Christopher M. Clark

Wer war schuld am Ersten Weltkrieg?

Mehrere hunderttausend Exemplare und über ein Dutzend Auflagen: Das Buch "Die Schlafwandler" des Historikers Christopher Clark verkauft sich nicht nur sehr gut, es hat auch die meisten Kritiker überzeugt. Dennoch hat seine Hauptthese für einen Streit unter Kollegen gesorgt.

Historikerstreit 13.06.2014

Nicht Deutschland sei hauptverantwortlich für den Ersten Weltkrieg, so seine These, sondern alle Großmächte gemeinsam: Deutschland und Österreich-Ungarn, aber genauso Russland, England und Frankreich.

Manche Kritiker werfen ihm vor, damit in die Argumentation der 1920er und 1930er Jahre zurückzukehren. Clark führe quasi die Kampagne der Kriegsunschuld weiter, die die deutsche Regierung gleich nach 1918 begonnen hat. "Ein unbegreiflicher Vorwurf", antwortet Christopher Clark im science.ORF.at-Interview.

science.ORF.at: Kennen Sie den Krimi "Mord im Orient-Express"?

Christopher Clark: Natürlich, und auch die sehr gute Verfilmung.

Ich frage deshalb, weil Sie in Ihrem Buch schreiben, dass die Juli-Krise von 1914 "kein Agatha-Christie-Roman" sei, der einen Täter kennt und eine Tatwaffe. Aber in Christies "Mord im Orient-Express" gibt es zwölf Täter, die alle auf das Opfer einstechen.

Porträtfoto des Historikers Christopher Clark

Christopher Clark

Christopher Clark, geboren 1960, ist Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Er war im Juni Gast bei einem Vortrag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

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Ich habe an den Krimi leider erst gedacht, als mein Buch schon fertig war. Insofern müsste ich meine Behauptung revidieren.

Im "Orient-Express" sind alle Täter gleich schuldig - sind auch die europäischen Großmächte alle gleich schuld am Ersten Weltkrieg?

Ich finde den Begriff "Schuld" wenig gewinnbringend. Er bringt uns nicht weiter, selbst wenn sich die "Schuldanteile" zwischen den Mächten leicht unterschieden - weil wir es eher mit einem Typ von Verhaltensmustern zu tun haben, die den verschiedenen Akteuren gemeinsam waren.

In Deutschland haben Sie mit Ihrer Hauptthese der geteilten Verantwortung für viel Aufregung gesorgt. Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie damit in die Argumentation der 1920er und 1930er Jahre zurückkehren. Sie würden quasi die Kampagne der Kriegsunschuld weiterführen, die die deutsche Regierung gleich nach 1918 begonnen hat. Außerdem habe der Historiker Fritz Fischer in den 1960er Jahren belegt, dass Deutschland die Hauptverantwortung trägt.

Dieser Vorwurf ist mir völlig unbegreiflich. Die Unschuldsthese war schon immer unhaltbar, deshalb war Fritz Fischer so wichtig. Fischer hat gezeigt, dass die Deutschen willentlich das Risiko eines großen Kriegs in Kauf genommen haben. Sie waren paranoid, bellizistisch, in Teilen der Elite findet man eine richtige Kriegslüsternheit. Die Unschuldsthese hat aber nichts mit meinem Buch zu tun. Ich versuche, die Befunde Fischers, die heute immer noch gelten, in ein gesamteuropäisches Bild einzubetten.

In der Juli-Krise hat Berlin Österreich-Ungarn den berühmten "Blankoscheck" ausgestellt. Ist das nicht ein gewichtiges Argument für die These der deutschen Hauptverantwortung?

Die Entscheidung Berlins, Österreich-Ungarn bedingungslos bei einer Aktion gegen Serbien beizustehen, ist natürlich eine der wichtigen Vorentscheidungen des Krieges. Aber mein Buch stellt generell die Hochstilisierung der Juli-Krise als alleinigen Ursprung des Krieges infrage. Der Countdown zum Krieg hat nicht mit den zwei Attentaten in Sarajewo begonnen. Die Frage ist: Warum reagierte man so gereizt auf diese zwei Attentate? Warum war das Verhältnis zwischen Belgrad und Wien schon davor so vergiftet? Das sind wichtige Fragen, die außerhalb der Juli-Krise beantwortet werden müssen. Die Vorgeschichte des Krieges fängt viel früher an.

Historikerkollegen wie John Röhl, die Kritik an Ihnen üben, argumentieren in etwa so: Natürlich ist die Vorgeschichte wichtig. Aber mit der Juli-Krise frohlockte das deutsche Militär, weil nun der aus ihrer Sicht günstigste Zeitpunkt für einen Krieg gekommen war.

John Röhl und andere haben das sehr gut dokumentiert. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass es mit der Juli-Krise strahlende Gesichter in Berlin gab. Aber es gab auch strahlende Gesichter in Paris und sogar in St. Petersburg. Der russische Agrarminister empfing eine Delegation der Duma und sagte: "Meine Herren, haben Sie keine Sorge, es wird ein herrlicher Krieg sein!" In Frankreich berichtete der russische Militärattaché: "Überall unter meinen Militärkollegen sehe ich strahlende Gesichter." Überall die gleichen Aussagen, weil man glaubte, dass man unter den bestmöglichen Umständen in einen Krieg geht. Das gab es nicht nur in Berlin.

Verstehen Sie dennoch die Reaktionen in Deutschland ein bisschen? Wenn man über die Vergangenheit spricht, sagt das ja immer auch etwas über die Gegenwart, und Sie selbst ziehen immer wieder Parallelen in die Gegenwart …

Besonders schleierhaft ist mir die Behauptung, und das hat mir John Röhl vorgeworfen, das Buch würde Deutschland heute auf einen neuen Sonderweg verführen, weil es irgendwelche dunklen Nationalgelüste befreien würde, die bisher durch die Kriegsschuldthese gefesselt waren. Das halte ich für abwegig, denn im Gegenteil: Man hat in der deutschen Öffentlichkeit die Argumentation des Buches auf eine ganz andere Weise weitergeführt, indem man vor schlafwandlerischen Alleingängen in der Außenpolitik gewarnt hat - vonseiten Deutschlands, aber auch von der EU oder Amerikas z. B. gegenüber Russland in der Ukraine-Krise.

Dennoch bekommen Sie mit Ihrem Buch auch den Beifall der Nationalen - stört Sie das?

Wenn nur Neonazis mir zujubelten und alle anderen das Buch mit Gleichgültigkeit betrachteten, wäre das für mich natürlich ein Hammerschlag. Leute wie John Röhl versuchen, das Buch in diese Ecke zu schieben, es als rechtslastiges Propagandastück abzustempeln und damit mundtot zu machen. Das finde ich schockierend. Das Buch verkauft sich im Übrigen nicht nur in Deutschland gut, sondern auch in England, den USA, in Kanada, Australien, Frankreich, Österreich und Belgien. Ich will damit nicht angeben. Aber es stimmt nicht, dass es nur bei den armen rechten Deutschen, die sich jetzt befreit fühlen, gut ankommt. Das ist die Propaganda der Gegner.

In Österreich ist die Aufregung über Ihr Buch viel geringer als in Deutschland. Warum?

In Österreich gehen die Fragen des Buchs vielleicht weniger an die Substanz als in Deutschland. Das hat mit dem gesamten Prozess der Vergangenheitsbewältigung im ehemaligen Westdeutschland zu tun - ein Prozess, der in der Geschichte wohl einmalig ist. Auf irgendeine rätselhafte Weise hängt die Kriegsschuldthese vom Ersten Weltkrieg mit dem Schuldkomplex des Zweiten Weltkriegs zusammen. Und da haben es die Deutschen unzweifelhaft mit einem historisch und moralisch einmaligen Erbe zu tun, das sich nicht nur aus der Kriminalität des NS-Regimes ergibt, sondern auch aus den Hunderttausenden von Mitläufern und Mittätern.

Manchmal habe ich bei den Kritikern meines Buchs das Gefühl, dass sie glauben, dass das ganze Gefüge ins Wanken kommt, wenn man an irgendeinem Teil des Schuldkomplexes im 20. Jahrhundert rüttelt. Das sehe ich aber nicht so. Denn eine Debatte über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wie jene über den Ersten wird es niemals geben. Die Struktur ist ganz anders: 1939 hat ein verbrecherisches Vernichtungsregime den Krieg vom Zaun gebrochen, die Kriegsentstehung 1914 war ganz anders.

Zu Österreich-Ungarn: Täuscht der Eindruck, dass Sie sehr wohlwollend mit dem Habsburgerreich umgehen, was seine Rolle bei der Kriegsentstehung betrifft?

Ich sehe das so: Österreich-Ungarn war ein Staatswesen. Und dieser Status als Staatswesen wurde in Belgrad, St. Petersburg, in gewisser Weise auch in Paris und London infrage gestellt. Es wurde immer wieder vom "kranken Mann an der Donau" gesprochen, das Reich sei dem Tode geweiht etc. Das stimmte damals aber überhaupt nicht. Das Habsburgerreich hatte zwar viele Probleme, aber auch viele Vorzüge - so wie die anderen Staatswesen. Es war übrigens nicht das einzige mit einem Nationalitätenproblem. Das gab es auch in Großbritannien, nach dem Ersten Weltkrieg ist dort Irland abgefallen. In Russland gab es ebenso viele Fragen mit ihren Minderheiten. Ich habe Österreich-Ungarn in meinem Buch als Staatswesen ernst genommen.

Umgekehrt haben Sie die Entstehung des serbischen Staatswesens als ziemlich blutrünstige Angelegenheit geschildert, die Serben als leicht unterentwickeltes Volk, das zu Geheimbündelei neigt …

Den Vorwurf, dass ich nicht sympathisch genug mit den Serben umgegangen bin, habe ich schon gehört. Es ist so: Man kann nicht einerseits, wie das damals in Jugoslawien der Fall war, Gavrilo Princip als Urheber der jugoslawische Freiheit feiern, und andererseits sagen, Serbien habe mit den Spannungen vor dem Krieg nichts zu tun. Sondern das eine hängt mit dem anderen zusammen. Gavrilo Princip war ein Freiheitskämpfer, aber auch ein Staatsterrorist. Wie so oft ist das eine Frage der Perspektive. Ich wollte zeigen, inwiefern Entwicklungen in Serbien für die Stabilität auf dem Balkan eine Bedrohung darstellten. Deshalb beginnt das Buch auch mit dem serbischen Königsmord von 1903.

Generell darf man nicht vergessen: Was die Serben angestrebt haben, war nichts anderes als das, was die Italiener und die Deutschen schon im 19. Jahrhundert angestrebt und erreicht haben - nämlich die Herstellung eines Nationalstaates, wenn notwendig mit Gewalt. Man kann das anerkennen, darf aber nicht vergessen, welche Risiken dabei entstehen. Wenn man etwa Stücke wie Bosnien-Herzegowina aus dem Habsburgerreich herausreißt und einem serbischen Staat einverleibt, ist das schön und gut - so denken alle europäischen Nationalisten. In dieser Region war das aber ein sehr gefährlicher Gedanke.

Ist Ihr Buch auch in slawischer Sprache erschienen?

Es erscheint auf Tschechisch, Polnisch, und auch an einer serbischen Übersetzung wird gerade gearbeitet. Welchen Erfolg es in Serbien haben wird, kann ich nicht abschätzen. Ich habe zuletzt heftige Kritik erlebt in Belgrad, bei einigen jüngeren Wissenschaftlern aber auch sehr viel Verständnis. Das ist ambivalent. Man reagiert einerseits sehr heftig auf alles, was die Geschichte Serbiens nicht in ein positives Bild setzt. Andererseits ist man froh, die Gelegenheit zu haben, ein bisschen wegzukommen von den nationalen Mythen, und die Debatte zu beleben.

Es zeigt sich, dass es noch ein sehr weiter Weg ist bis zu einer gesamteuropäischen Sichtweise von Geschichte …

Es ist für mich die größte Enttäuschung gewesen - nicht nur in der Rezeption meines Buches -, zu sehen, wie wenig Europa fähig ist, sich dieses Krieges europäisch zu erinnern. Wir sind noch nicht so weit, da braucht es vielleicht noch einmal 100 Jahre.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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